Der Mattmark-Überlebende Ilario Bagnariol (73) erinnert sich
«Eisblöcke stürzten mir entgegen»­

50 Jahre sind seit der bisher grössten Baukatastrophe in der Schweiz vergangen. Doch die Bilder von dem Tag, als der Gletscher kam und alles unter sich begrub, lassen Ilario Bagnariol * bis heute nicht los. 

DAMALS UND HEUTE: Ilario Bagnariol als 73jähriger in Ins BE und als junger Mann auf einem Caterpillar-Bulldozer.  (Foto: Yoshiko Kusano)

work: Ilario Bagnariol, Sie ­haben Glück, dass Sie überlebt haben.
Ilario Bagnariol: Ja, deshalb kann ich jetzt mit Ihnen reden. Letzte Nacht ist mir wieder alles durch den Kopf gegangen. Nicht nur der Tag der Katastrophe, auch unsere Arbeit in der Squadra, im Team. Wir waren da Italiener, Spanier, Türken, Schweizer, aber jeder stand für jeden ein. Fünf Kollegen unserer Truppe sind in Mattmark gestorben, auf dem Platz neben der Kantine. Sie hatten gerade das Öl ihrer Bulldozer gewechselt. Das hätte auch mir passieren können. Aber als der Gletscher kam, war ich weiter oben gerade dabei, mit meinem Bulldozer einen grossen Felsbrocken auf die Seite zu schieben, damit die Mineure ihn dann hätten sprengen können. Da merkte ich, dass mein Chef mir ein Zeichen gab, ich solle nach oben sehen. 

Und was sahen Sie?
Ich blickte nach oben, und die Eisblöcke stürzten mir schon entgegen. Sieben Meter vor mir donnerten sie weiter nach rechts hinunter zu den später verschütteten Gebäuden. Ich sprang vom Bulldozer und stellte mich dahinter. Hören konnte ich nichts, der Bulldozer war zu laut. Dann ging ich zur Kante des Hangs, um zu sehen, was passierte. Dort sah ich einen umgeworfenen Kipplastwagen, der Fahrer kletterte oben aus dem Fenster. Plötzlich merkte ich, dass alles weiss war. Leute riefen von der anderen Seite des Eisbrockenstroms, denn es gab keine Strasse mehr, sie war verschüttet. Von dort, wo ich stand, sah ich alles, auch die Stelle, an der die Kollegen unten am Service der Bulldozer gearbeitet hatten.

Haben Sie danach bei den Bergungsarbeiten geholfen?
Ja, ich suchte mit dem Trax Verschüttete. Es war so schlimm wie im Krieg. Der erste Tote, den ich fand, war ein Polizist, der in einem Ambulanzfahrzeug unterwegs gewesen war. Er wurde zwar nicht erdrückt, bekam aber keine Luft mehr und erstickte. Ich habe dann gefragt, ob es nicht etwas Starkes zu trinken gebe. Beim Militär, das uns half, gab es nur Tee. Einer hat mir dann etwas Richtiges zu trinken gebracht. Danach habe ich weitergesucht, zweieinhalb Wochen lang. Da habe ich viel gesehen, vor allem Leichenteile: einen Arm, ein Bein, wie aus der Tiefkühltruhe. Die einzige ganze Leiche war eben dieser Polizist.

Wurden Sie in der Zeit psychologisch betreut?
Damals gab es das nicht. Ich hatte auch keine grossen Pro­bleme. Mir tat es allerdings weh zu sehen, wenn die Verwandten der Toten kamen und weinten. Abends unten im Tal in der Kantine. In solchen Momenten flüchtete ich in mein Zimmer, um das nicht mitzuerleben.

Hat Mattmark Ihr Leben beeinflusst?
Ich kann gewisse Bilder bis heute nicht vergessen. Zum Beispiel: Eines Morgens rief mich mein Chef und Freund Walter Neuhaus zu sich. Ich sollte dorthingehen, wo sie alle Toten aufbewahrten. Sie hatten einen Freund von mir gefunden, den Sarden Olivio Dessi. Auf dem Boden lagen die Toten in zwei Reihen: hier ein Bein, dort ein Kopf, da ein Rumpf. Bei meinem Freund angekommen, sagte ich: «Ja, das ist Dessi Olivio.» Er war kaum mehr zu erkennen. Er hatte nur knapp unter der Strasse gelegen, die wir für die Bergungsarbeiten gebaut hatten. Und über die wir mit unseren Maschinen drübergefahren sind. Seine Frau war schwanger und musste dann kommen, um die Identität definitiv zu bestätigen.

Neben Olivio lag ein Rumpf ohne Kopf, Arme und Beine. Mit diesem Kollegen war ich noch am Morgen zusammen gewesen. Sie hatten ihn identifizieren können wegen einer Zigarette, die sie in der Brusttasche des Hemdes gefunden hatten. Es war eine HB. Auf der Baustelle hatten nur zwei Kollegen HB-Zigaretten geraucht, er und ein Österreicher. Der hat überlebt.

Vieles wurde während der Bergungsarbeiten zur Routine, doch die stärksten Erinnerungen sehe ich noch heute gestochen scharf wie ein Foto.

* Ilario Bagnariol wuchs in der norditalienischen Region Friaul auf. Auf einer Grossbaustelle in Luxemburg lernte er mit Bulldozern umzu­gehen. 1963 kam er auf die Baustelle in Mattmark VS. Heute lebt der 73jährige mit seiner Frau in Ins BE.

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