Mattmark-Katastrophe: Überlebende berichten
«Jetzt musst du um dein Leben rennen»

Gianni Da Deppo, Pietro Vedana und Angelo Bressan waren bei der Katastrophe von Mattmark dabei. work erzählen sie ihre Geschichte.

SCHWIERIGE BERGUNGSARBEITEN: Nur fünf Menschen überlebten den Gletscherabsturz auf das Barackendorf von Mattmark. (Foto: Keystone)

Gianni Da Deppo (72), Fachmann für Sondierbohrungen aus Domegge (Belluno), war einer der ersten am Unglücksort. Doch er konnte nur Tote bergen.

«Es ist ein Unglück passiert, der Gletscher hat sie in den Tod gerissen!» Noch heute höre ich die Tochter unseres Nachbarn in Saas Almagell diese Worte rufen, als habe sich die Tragödie erst gestern abgespielt. Es war am Montag kurz nach fünf Uhr nachmittags. Der Rucksack für die Nachtschicht war gepackt, und ich wollte aus dem Haus, als mir im Treppenhaus das Mädchen tränenüberströmt in die Arme lief. Sie habe im Dorf gehört, der Gletscher sei auf die Barackensiedlung gestürzt, ihr Vater sei auch da oben.

Kaum hatte ich gehört, was passiert war, liess ich den Rucksack fallen und rannte zum Firmenbus, der uns zum Schichtwechsel zu den Baracken fahren sollte. Zu fünft fuhren wir hoch, doch bei unserer Ankunft türmte sich an der Stelle, wo einst unsere Baracken gestanden hatten, eine 35 Meter hohe Wand aus Eis und Schutt. Von den Baracken war nichts mehr übrig, da und dort ragte ein Brett aus dem Eis. Ein unbeschreibliches Gefühl der Angst und der Ohnmacht kam in mir hoch. Ich wusste, wir würden kaum Lebende bergen.

Der Firmenbus fuhr ins Tal zurück, um Hilfe zu holen. Als Einziger an der Unglücksstelle zurückgeblieben, irrte ich wie im Wahn auf dem Eis herum, zerrte mit blossen Händen an den aus dem Schnee herausragenden Brettern. Zuerst herrschte Totenstille, dann trafen Kollegen und die Polizei ein, Rettungshelikopter flogen über die Unglücksstelle, unzählige Krankenwagen fuhren die Strasse zum Staudamm hoch. Ich blieb noch die ganze Nacht und den nächsten Vormittag an der Unfallstelle. Doch die Krankenwagen waren umsonst gekommen, es gab nur wenige Überlebende. Die Wagen fuhren leer ins Tal zurück.

Den letzten Toten fanden wir am 19. Dezember. Er sass auf einem Förderband, seine Schuhe fein säuberlich neben sich, um ihn herum türmte sich das Eis. Tagsüber trugen wir mit Pickel und Schaufel die Eismassen ab. Abends musste ich die Leichen identifizieren, da ich viele Kollegen kannte. Im Kinosaal aufgebahrt und in weisse Kittel gehüllt, waren die meisten von ihnen fast unkenntlich.

Mein Leben verdanke ich meiner Frau. Hätte ich wie meine Kameraden in der Baracke gewohnt, so wäre ich jetzt tot. Meine Frau und ich hatten einige Wochen vorher geheiratet, und sie wollte mich in der Schweiz besuchen. So nahmen wir uns für den Sommer eine kleine Wohnung in Saas Almagell. Vierzig Jahre sind seit den schrecklichen Ereignissen vergangen, doch ich frage mich noch immer: Warum, warum wurde der Gletscher nicht genügend kontrolliert?


Pietro Vedana (77), Baggerführer aus Sospirolo (Belluno), half bei der Bergung. Eine Alarmanlage warnte vor Eisschlag. Warum gab es das nicht schon früher, fragt er.

Acht Tage nach der Katastrophe kam der Brief. Als Baggerführer wurde ich zur Bergung der Opfer aufgeboten. Obwohl ich wusste, was mich erwartete, war ich erschüttert, als ich dort ankam, wo früher unsere Baracken gestanden hatten.

Am Tag nach der Katastrophe hatte ich meine Frau nach Italien zurückbegleitet. Sie war hochschwanger, und der Anblick von so viel Leid hatte ihr sehr zugesetzt. Am 30. August arbeitete ich auf einer Seitenmoräne des Gletschers und war deshalb ausser Reichweite der tödlichen Gletscherlawine. Dass ich lebend davonkam, war purer Zufall.

Elf Stunden pro Tag musste ich mit meinem Bagger die Eismassen abtransportieren. Vor mir lief ein Kollege, der ein Zeichen gab, wenn wir auf eine Leiche stiessen. Dann musste ich anhalten, und wir befreiten den Leichnam mit Pickel und Schaufel aus dem Eis.

Während der Arbeit schielte ich mit einem Auge ständig zum Gletscher. Ich hatte unbeschreibliche Angst. Noch immer bewegte sich das Eis. Man konnte das mit blossem Auge sehen. Immer brachen kleine Eistürme in sich zusammen, Brocken fielen herunter. Einige Tage nach der Katastrophe wurde eine Alarmanlage installiert. Häufig löste man einen Probealarm aus, und wir mussten innerhalb von 45 Sekunden die Gefahrenzone verlassen. Ich frage mich noch heute, weshalb solche Sicherheitsmassnahmen erst nach der Katastrophe ergriffen wurden.

Gerechtigkeit habe ich von der Schweizer Justiz nie erwartet. 57 der 88 Todesopfer waren italienische Migranten, 17 kamen aus meiner Provinz, Belluno. Wir dachten uns von Anfang an, dass es keinen Schuldspruch geben würde. So waren wir auch nicht überrascht, als sieben Jahre später alle Verantwortlichen freigesprochen wurden.

Nach den Bergungsarbeiten hielt ich es in Mattmark nicht mehr aus. Alles erinnerte mich an die toten Kollegen, an das Leid und die Angst. Deshalb liess ich mich von meinem Arbeitgeber auf eine andere Baustelle versetzen. Aber schon ein Jahr später traf ich dann einen definitiven Entscheid. Nach zwanzig Jahren Migrantenleben, unter anderem als Arbeiter beim Bau des Flughafens Kloten, der Staudämme in Marmorera GR, auf der Göscheneralp UR und in Mattmark, wollte ich zurück zu meiner Frau und meinen Töchtern. Ich suchte mir Arbeit in meiner Heimat.


Angelo Bressan (58), Baggerführer aus Gosaldo (Belluno), wollte Gerüchten nicht glauben, die Barackensiedlung stehe am falschen Ort. Zwei Tage später kam der Gletscher.

Mein Freund Beppe und ich standen auf dem Vorplatz der Baracken und schmierten die Bagger. Es war am Samstag vor der Tragödie. Es war heiss, vom Gletscher über uns lösten sich mehrmals Eisblöcke, die krachend hinter der Barackensiedlung niedergingen. Beppe richtete sich auf und schaute den fallenden Eismassen nach: «Wenn der Gletscher kommt, sind wir alle tot», sagte er. Das waren genau seine Worte.

Auch im Dorf hatte ich schon munkeln hören, die Baracken seien am falschen Ort erbaut worden. Zu Beginn der Arbeiten für den Stausee standen sie weiter oben im Tal, doch als das Wasser eingelassen wurde, musste die Siedlung anderswo angelegt werden. Nun stand die Barackensiedlung direkt unterhalb der Gletscherzunge. Ich war 17 Jahre alt, einer der jüngsten auf der Baustelle, und wollte den Gerüchten über den gefährlichen Standort keinen Glauben schenken. Leider zu Unrecht, wie sich herausstellte.

Zwei Tage später sassen wir um halb sechs Uhr abends in der Kantine in Zermeiggern und wollten gerade zur Spätschicht aufbrechen. Da platzte ein Ingenieur mit breit gespreitzten Armen und kreidebleichem Gesicht in den Raum. Ich werde den Ausdruck in seinen Augen nie vergessen. Er rang nach Worten: «Der Gletscher, er ist auf die Baracken gestürzt!» In der Kantine wurde es still. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Wir sprangen auf die Lastwagen und fuhren hoch, um zu helfen.

Was uns da oben erwartete, war kein Anblick für einen Siebzehnjährigen. Ich weiss noch, wie wir versuchten, einen Kollegen lebend zu bergen. Ein leises Wimmern drang durch die Eismassen. Ein Strommast hatte sich um seinen Körper gebogen. Wir brauchten Stunden, um ihn zu bergen. Vergeblich, wenig später verstarb er an Ort und Stelle. Er war Süditaliener, wie die meisten auf der Baustelle.

Meinen Freund Beppe traf ich erst Tage später bei den Bergungsarbeiten wieder. Er war unversehrt. Wir schauten uns an und fielen uns stumm in die Arme. Die Angst hatte meinen Freund Beppe gerettet: Während der Arbeit habe er immer wieder mit einem Auge auf den «Drachen» geschielt, so erzählte er mir, und als dieser plötzlich in Bewegung gekommen sei, habe er sofort gewusst: «Jetzt, Beppe, musst du um dein Leben rennen.»

Mattmark nie vergessen

Der Katastrophe von Mattmark hat die Unia eine dreisprachige Sonderpublikation gewidmet. Sie kann hier heruntergeladen werden.

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