Menschenverachtende Mehrheit im nationalen Parlament
Für die Rechten ist Armut ein Verbrechen

Menschen ohne Schweizer Pass, die unverschuldet in Armut geraten, sind für die rechten und bürgerlichen Parteien Verbrecher und sollen weiterhin ihren Aufenthaltsstatus verlieren. Das ist ein Skandal. Und schadet allen Lohnabhängigen in der Schweiz.

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SKANDALÖS: Die Rechten im Nationalrat. (Foto: Keystone)

Unter dem Vorwand, tatsächlichen oder angeblichen «Missbrauch» der Sozialhilfe durch «die Ausländer» zu verhindern, drückten die rechten und bürgerlichen Parteien vor sechs Jahren eine Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) durch. Das hatte dramatische Folgen. Nicht für «Missbraucher», sondern für alle Menschen ohne Schweizer Pass, die unverschuldet in existentielle Not geraten. 

Im Juni 2020 reichte die Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti eine parlamentarische Initiative ein, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. Ihr Anliegen war präzise: Wer sich seit mehr als zehn Jahren ordnungsgemäss in der Schweiz aufhält, soll wegen unverschuldeter Sozialhilfe-Bedürftigkeit nicht mehr um Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung fürchten müssen. Ausgenommen wären weiterhin jene Fälle, in denen Sozialhilfe-Bedarf mutwillig herbeigeführt oder aufrechterhalten wird.

KÄMPFT GEGEN UNGERECHTIGKEIT: SP-Nationalrätin Samira Marti. (Foto: Keystone)

Rechtsrutsch mit Folgen

Das Parlament zeigte sich zunächst aufgeschlossen. 2021 gaben beide Kammern der Initiative Folge. Das Anliegen wurde getragen von einer breiten Allianz aus SP, Grünen und GLP, ergänzt durch einige Stimmen aus Mitte und FDP. Doch die Mehrheitsverhältnisse änderten sich. Nach den Wahlen 2023, die das Parlament deutlich nach rechts verschoben, kippte die Stimmung. Am 5. September 2025 beschloss die Staatspolitische Kommission des Nationalrats (SPK-NR) mit 14 zu 11 Stimmen, dem Rat die Abschreibung des Geschäfts zu beantragen. Die Begründung folgte einem bekannten Muster: In der Vernehmlassung hätten sich 15 Kantone, bürgerliche Parteien und der Gewerbeverband gegen den Entwurf gestellt, ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf sei nicht erkennbar. Die bürgerliche Mehrheit des Nationalrates folgte dieser Argumentation. Und sagt sechs Tage vor Weihnachten:

Doch, Armut ist ein Verbrechen. Wer keinen Schweizer Pass hat, wird dafür mit der Ausschaffung bestraft.

Kein Ausreisser, böse Absicht

Dieser neuste zynische Entscheid ist kein «Ausreisser» der bürgerlichen Parlamentsmehrheit, sondern deren Programm. Darum lohnt sich ein Blick zurück. Mit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes, die 2019 in Kraft trat, wurde die Verknüpfung von Sozialhilfebezug und Aufenthaltsrecht massiv verschärft. Bis dahin galt eine klare Regel, und bereits diese war hart: Wer sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhielt, konnte seine Niederlassungsbewilligung nur bei schweren Verstössen gegen die öffentliche Sicherheit verlieren. 

Seit der Revision kann eine C-Bewilligung bei «dauerhaftem» Sozialhilfebezug in «erheblichem Mass» zurückgestuft oder widerrufen werden. Selbst wenn die Menschen während Jahrzehnten in der Schweiz gelebt und gearbeitet habe. In der damaligen parlamentarischen Debatte wurde das als «gezielte Massnahme» gegen «Missbrauch» verkauft. Es gehe um Einzelfälle, etwa um Personen, die sich hartnäckig weigern würden, eine zumutbare Stelle anzunehmen. 

Zahlen ignoriert

Die Drohung, Menschen zu bestrafen, die in unverschuldeter Not ein ihnen zustehendes Recht beanspruchen, wirkt. So untersuchte eine Studie der Berner Fachhochschule für die Stadt Basel den Nichtbezug von Sozialhilfe zwischen 2016 und 2020. Als «Nichtbezug» wird definiert, wenn Personen mit einem Anspruch auf Sozialhilfe diesen nicht annehmen. Besonders auffällig ist eine Gruppe: Drittstaatenangehörige mit Niederlassungsbewilligung C. Das sind genau jene, die von der AIG-Revision besonders betroffen sind. Bei ihnen stieg die Nichtbezugsquote von 26,7 Prozent im Jahr 2018 auf 33,8 Prozent im Jahr 2020. Ein Plus von 7,1 Prozentpunkten beziehungsweise ein relativer Anstieg von 27 Prozent. Die Studie spricht von einem «verzögerten Einfluss» der AIG-Revision und liefert damit den bislang klarsten wissenschaftlichen Nachweis dieses Zusammenhangs.

Sicherheitsnetz als Falle

Der «Nichtbezug» hat konkrete Folgen: Menschen verschulden sich, bis eine Sanierung kaum mehr möglich ist. Mietzinsausstände gefährden den Wohnraum. Notwendige medizinische Behandlungen werden aufgeschoben oder ganz unterlassen. Kinder in ihrer Entwicklung und Bildung behindert. Die Rechten und die Bürgerlichen habe es fertiggebracht, die Logik der Sozialhilfe als letztes Sicherheitsnetz umzukehren. Für Menschen ohne Schweizer Pass wird die Inanspruchnahme eines Rechts zur Falle. Und sie bleibt es weiterhin.

Freipass für Lohndrücker

In der öffentlichen Debatte meist ausgeblendet bleibt die arbeitsmarktliche Dimension dieses Entscheides. Wer jederzeit damit rechnen muss, dass Krankheit, Kündigung oder familiäre Krisen nicht nur zu finanziellen Problemen, sondern auch zu aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen führen, verhandelt anders. Schlechtere Arbeitsbedingungen werden eher akzeptiert, Konflikte seltener ausgetragen, Löhne weniger eingefordert. Besonders in Branchen mit schwacher Kontrolle und sowieso schon prekären Arbeitsbedingungen wirkt diese Angst einschüchternd. Die Verknüpfung von Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe wird so zum Mittel, die Arbeitsbedingungen für alle Lohnabhängigen in diesen Branchen zu verschlechtern. Und das betrifft nicht «nur» Menschen ohne Schweizer Pass. Besonders zynisch:

Ausgerechnet jene Parteien, die Mindestlöhne, die zum Leben reichen, verhindern wollen, stimmten praktisch geschlossen dafür, Arme als Verbrecher zu behandeln.

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