Saisongastro: Monsterschichten, Rüpelchefs und Ekelgäste
«Ich musste arbeiten, wann immer es der Chef verlangte»

Après-Ski-Hütten und Bergrestaurants sind Hochrisikozonen für Ausbeutung. Sozialanthropologin Yara Küng (27) hat sie in einem Selbstexperiment erforscht. Im Interview erklärt sie, was in der Saisongastronomie falschläuft, warum immer mehr Personal aus Argentinien kommt und welche Rolle Drogen spielen.

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YARA KÜNG: «In der Saisongastronomie sind die Abhängigkeiten vom Chef grösser als sonst.» (Foto: Michael Schoch)

Frau Küng, Sie forschen an der Uni Bern zu Gefängnissen. Aber Ihre Masterarbeit haben Sie über die Bündner Saisongastronomie geschrieben. Was haben Knast und Bergrestis gemein?
Yara Küng: Auf den ersten Blick sind es völlig verschiedene Gebiete. Doch es gibt durchaus Verbindendes, etwa die Migration. Sans-papiers laufen zum Beispiel ständig Gefahr, aufzufliegen und im Gefängnis zu landen. Sie sind daher leicht erpressbar und oft von Ausbeutung betroffen. Die Wintergastronomie in den Bergen wiederum würde ohne Saisonangestellte aus dem Ausland niemals funktionieren.

Aber Saisonangestellte sind doch keine Sans-papiers!
Meistens nicht, nein. Und trotzdem sind es Arbeitende, die weniger Rechte haben als Schweizer oder niedergelassene Ausländerinnen. Sie kommen oft als Kurzaufenthalter mit einer L-Bewilligung. Wird ihnen gekündigt, dürfen sie als EU- oder Efta-Bürger und Bürgerinnen theoretisch bis 6 Monate im Land bleiben und eine neue Stelle suchen. Doch real müssen sie nach einer Kündigung die Schweiz meist verlassen. Denn sie haben kein Erspartes und weder Anrecht auf Arbeitslosengeld noch auf Sozialhilfe. Zudem verlieren sie mit der Stelle meist auch die Unterkunft. Sie sind also – ähnlich wie Sans-papiers – sehr verwundbar und leichte Ausbeutungsopfer.

Ist Ausbeutung denn ein häufiges Phänomen in der Berggastronomie?
In der Saisongastronomie sind die Abhängigkeiten vom Chef grösser als sonst. Auch seine Kontrolle. Eben weil viele direkt im Restaurant oder in einer Dienstwohnung des Chefs wohnen. Und weil ihr Aufenthaltsstatus an den Job gekoppelt ist. Auch die Arbeitslast ist grösser, und Kontrollen der Arbeitsbedingungen sind sehr selten. Der Landes-Gesamtarbeitsvertrag für die Gastronomie (L-GAV) spielt in vielen Betrieben praktisch keine Rolle. Denn viele Vorgesetzte haben erstens keine Ahnung, was da überhaupt drinsteht, und halten sich zweitens erst recht nicht an seine Vorgaben.

EINGETAUCHT: Yara Küng hat für ihre Arbeit selbst als Saisonangestellte gearbeitet. (Foto: Michael Schoch)

Wollen Sie damit sagen, der L-GAV sei wertloses Papier?
Nein. Ohne ihn wären die Arbeitsbedingungen und Löhne noch viel schlechter. Doch auf viele Vorgesetzte und Wirte ist leider kein Verlass, es sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, die den Vertrag kennen und durchsetzen müssen.

Das ist aber nicht nur in den Bündner Bergen so.
Richtig, Graubünden ist keine Ausnahme. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht unterscheidet sich die Situation kaum von strukturell verwandten Bergregionen. Was aber speziell ist: In keinem anderen Kanton hat die Gastronomie anteilsmässig einen so hohen volkswirtschaftlichen Stellenwert wie in Graubünden. Rund 15'000 Personen arbeiten in der Bündner Gastro, ein Grossteil davon sind Ausländerinnen und Ausländer. Konkret: Niedergelassene, Grenzgänger aus Italien, aber eben auch rund 2000 Saisonangestellte mit Kurzaufenthaltsbewilligung.

Die Unia trifft in Berggebieten immer öfter auch Gastro-Büezer aus Südamerika an. Was steckt dahinter?
Das ist eine relativ neue Entwicklung. Das Personal kommt von immer weiter her. Es handelt sich meist um Arbeiterinnen und Arbeiter mit italienischen oder spanischen Vorfahren und entsprechender Doppelbürgerschaft. Sie reisen aus Ländern wie Argentinien oder Paraguay in die Schweiz, weil die Verdienstmöglichkeiten zu Hause miserabel geworden sind. Und hier werden sie dringend gebraucht, da für viele der bisherigen Gastrosaisonniers aus Österreich, Deutschland oder Italien die Schweiz nicht mehr genug attraktiv ist.

Warum nicht?
Die Löhne sind kaum gestiegen, das Preisniveau aber deutlich. Insbesondere Wohnen kann man sich kaum mehr leisten in touristischen Bergregionen. Da fragen sich viele, ob sie sich die extreme Arbeitsbelastung noch antun wollen. Erschwerend hinzu kommt gerade für Graubünden noch das neue Grenzgängerabkommen mit Italien. Es führt zu deutlich höheren Steuern für die Frontalieri. Die tägliche Pendlerei in die Schweiz lohnt sich für viele nicht mehr. Auch deshalb herrscht zurzeit eine krasse Personalnot.

Wie kamen Sie eigentlich auf dieses spezielle Forschungsthema?
Ich habe selbst mehrere Jahre nebenbei in der Gastronomie gejobbt. Zuletzt als Barchefin in einem Zürcher Club. An der Uni habe ich mich des Themas Saisongastro und Ausbeutungsverhältnisse von der akademischen Seite her angenommen. Ich habe mich voll reingefuchst, aber schnell gemerkt, dass es praktisch keine neuen Forschungsbeiträge mehr gab seit dem Ende des Saisonnierstatuts 2002. Ich wollte Licht ins Dunkel bringen und schauen, wie sich die Verhältnisse entwickelt haben.

Wie sind Sie vorgegangen?
Wir Sozialanthropologinnen schauen nicht von aussen auf ein Phänomen, sondern tauchen selbst ein, werden Teil davon, um es besser verstehen zu können. Ich habe mich also auf verschiedene Saisonjobs in der Bündner Berggastronomie beworben und so zuletzt viele Betriebe von innen kennengelernt und ganz verschiedene Saisonangestellte interviewt: Reinigungsleute, Barfrauen, Köche, Kellnerinnen, aber auch spontane Tagelöhner, die über eine App vermittelt werden.

YARA KÜNG: «Schon am ersten Tag musste ich eine 13-Stunden-Schicht schieben.» (Foto: Michael Schoch)

War die Doppelrolle Forscherin-Gastroangestellte für die Wirte kein Problem?
Anscheinend nicht, ich habe mein Vorhaben stets offengelegt und schnell eine Stelle in einer Après-Ski-Bar bekommen. Doch diese erste Stelle habe ich schon nach wenigen Tagen wieder gekündigt.

Warum?
Weil es schlicht der Wahnsinn war! Ich musste arbeiten, wann immer es der Chef verlangte. Schichtpläne gab es nicht in diesem Betrieb…

…ein klarer Verstoss gegen den L-GAV!
Ja. Und ich hatte einen 50-Prozent-Vertrag, der Chef erwartete aber 100 Prozent oder mehr. Schon am ersten Tag musste ich eine 13-Stunden-Schicht schieben. Einmal konnte ich 10 Minuten Pause machen und ein Sandwich runterwürgen, sonst nichts. Es gab auch keinen Brandschutz, und hinter dem Tresen war so wenig Platz, dass wir Angestellte immer wieder mal einen Ellbogen im Gesicht hatten. Oder man verbrühte sich an heissen Getränken.

Und wie waren die Gäste?
Na ja, es gibt Angenehmeres als verschwitzte Männer im Skianzug, die seit 10 Stunden am Saufen sind und zu ohrenbetäubend lautem Schlager herumspringen. Ich musste mir einiges an dummen Sprüchen anhören und wurde sogar mit Bier bespritzt. Dabei sollte man dann auch noch lächeln. Einmal nach einer Monsterschicht konnte ich einfach nicht mehr. Ich war fixfertig und den Tränen nahe. Meine direkte Vorgesetzte war zum Glück nett, und wir haben die Sache einvernehmlich beendet. Die Reaktion vom Oberboss war dagegen jenseits.

Inwiefern?
Er hatte einen Aggressionsausbruch, schrieb mir schamlos ein beleidigendes Mail und verlangte, dass ich die Personalwohnung sofort verlasse.

Hand aufs Herz: Dass Après-Ski-Hütten alles andere als «Safe Spaces» sind, ist doch leider bekannt.
Überrascht hat mich das Ausmass. Dieser Chef handelte ganz offen nach dem Motto: legal, illegal, scheissegal. Obwohl er wusste, dass ich für meine Arbeit forschte. Und er war nicht irgendein Nobody, sondern Mitglied des Gastroverbands und Geschäftsführer der Restaurationsabteilung der Bergbahnen. Überrascht hat mich auch, dass manche Gastroarbeiterinnen diese Zustände eine Saison lang durchhalten. Meine direkte Vorgesetzte etwa, eine Tschechin Mitte 30, bügelte noch viel mehr Stunden als wir anderen Barleute. Wobei: Gewisse Menschen haben halt auch einfach keine Wahl.

Kommen da auch Drogen ins Spiel?
Im konkreten Fall nicht, soviel ich weiss. Aber sonst durchaus. Ich weiss von mehreren Angestellten, die ihr Tempo durch Kokain hielten. Das Paradebeispiel war in einem anderen Bergresti. Da wurden immer jene Angestellten Mitarbeitende des Monats, die am meisten Stunden geleistet hatten. Es gewann einer mit fast 80 Arbeitsstunden auf dem Wochenkonto. Alle wussten, dass er schwer kokainabhängig war.

YARA KÜNG: «Es hat mich sehr gefreut zu sehen, dass sich Gastroleute mit ihrer Gewerkschaft wehren und sogar auf die Strasse gehen.» (Foto: Michael Schoch)

Und welche Rolle spielt Alkohol?
Er ist omnipräsent, getrunken wird wirklich massiv, aber zu ganz unterschiedlichen Zwecken. Etwa, um die Arbeitslast und die Verhältnisse generell durchzuhalten. Oder, um nach einer intensiven Schicht runterzukommen und einschlafen zu können. Aber auch einfach, um nach Feierabend selbst noch etwas zu feiern. Wobei es eine seltsame Art des Feierns ist. Viele meiner Interviewpartner sagten, nach den Schichten seien sie eh schon kaputt, mit Alkohol könnten sie sich wenigstens ein paar Stunden vergessen.

Nach der Festanstellung in der Après-Ski-Hütte haben Sie weitere Gastrojobs über eine Stellenvermittlungs-App angenommen. Wie war das Leben als Plattformarbeiterin?
Auch hart, aber auf eine andere Art. Das Gute an der Plattform ist, dass die Arbeitgeber illegale 14-Stunden-Schichten, wie sie in der Berggastro oft vorkommen, gar nicht erst ausschreiben können. Der Nachteil: Die Jobs dauern meist bloss einen Abend, ein Wochenende oder vielleicht mal eine Woche. Deshalb stehst du ständig unter Druck, einen neuen Job zu finden, und bist Tag und Nacht online. Die Plattform dominiert zusehends dein Leben. Und man muss extrem flexibel sein. Vorauszuplanen ist unmöglich. Und: Die Planung und die Dauer der komplizierten und langen Anreisen in die Berghütten gehen voll auf deine Kappe. Spesen für Zugreisen gibt’s natürlich auch nicht.

Und wie ist der Lohn bei der Plattformarbeit?
Die Plattform überwies mir für die Schichten das, was die Betriebe als Entschädigung festgelegt haben, also just den Mindestlohn. Zudem fällt auch das Trinkgeld weg, denn es sind meistens moderne Grossbetriebe, die solche Apps einsetzen. Und da läuft alles digital, Bestellung und Bezahlung sowieso. Die Gäste können zwar auch digital Trinkgeld geben, doch es ist viel weniger geworden. Und Plattformarbeitende sehen gar nichts davon, da die Betriebe es bloss an die Festangestellten weiterleiten.

Was heisst all das für die Gewerkschaftsarbeit in der Berggastronomie?
Diese ist wohl noch schwieriger geworden, als sie es früher schon war. Viele Arbeitende verfolgen kurzfristige Ziele, machen nur eine Saison oder wechseln häufig den Betrieb. Mit den Plattformen wird die Fluktuation noch grösser. Und trotzdem wird Solidarität gelebt. Das zeigt sich im Arbeitsalltag immer wieder, wenn sich die Arbeitenden gegenseitig unterstützen – und sei es nur mit einem nicht getippten Menu. Und dass Widerstand selbst unter diesen prekären Bedingungen möglich ist, hat die Unia ja im Engadin und in Chur gezeigt mit ihren Protesten gegen die Plan-B Kitchen AG.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von diesen Protesten gelesen haben?
Es hat mich sehr gefreut zu sehen, dass sich Gastroleute mit ihrer Gewerkschaft wehren und sogar auf die Strasse gehen. Überlange Arbeitstage, keine Pausen, Personalnot, Sexismus, brutaler Umgangston und Rauswurf aus Job und Zimmer bei Kritik – all das sind leider alles andere als Randerscheinungen in der Gastronomie. Das muss sich endlich ändern!

Yara Küng: Sozialanthropologin und Barkeeperin

Yara Küng (27) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. Gegenwärtig forscht sie zu Gefängnissen. Im Mai dieses Jahres hat sie am Departement Sozialanthropologie und Kulturwissenschaftliche Studien ihre Masterarbeit eingereicht. Der Titel: «Unbegrenzter Zugriff (auf Körper). Saisonarbeit und Plattformarbeit im Bündner Gastgewerbe». Neben dem Studium arbeitete die Zürcherin stets in der Gastronomie, zuletzt als Barchefin in einem Club, und ist seither Unia-Mitglied.

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