Gefährlich gut gemeint
Service-Citoyen-Initiative gefährdet Löhne und bestraft Frauen

Alle in der Schweiz ­sollen einen obligatorischen Dienst für die Allgemeinheit leisten. Das will die Bürgerdienst-Initiative. Das tönt auf den ersten Blick sympathisch. Doch ein Ja hätte brandgefährliche Folgen.

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SO KANN BÜRGERDIENST AUSSEHEN: Übung der Seuchenwehr des Zivilschutzes zur Vogelgrippe. (Foto: Keystone)

Die Initiantinnen und Initianten verkaufen ihre Vorlage als Projekt für Zusammenhalt und Gleichstellung. Doch tatsächlich verschärft sie bestehende Ungleichheiten. Frauen würden gezwungen, zusätzlich zu Erwerbs- und Familienarbeit einen Pflichtdienst zu leisten – obwohl sie heute bereits den Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit tragen. Laut Bundesamt für Statistik entfallen 61 Prozent ihrer gesamten Arbeitszeit auf unbezahlte Betreuungs- und Pflege­arbeit. Statt Gleichstellung bringt die Initiative also mehr Belastung für Frauen – und dies unter dem Deckmantel der «Fairness».

Lohndumping programmiert

Der vorgeschlagene Zwangsdienst kann auch im Gesundheits-, Bildungs- oder Betreuungsbereich abgeleistet werden. Was wie Hilfe klingt, ist in Wahrheit ein Angriff auf die Löhne – ausgerechnet in Branchen, die schon heute für ihre prekären Arbeitsbedingungen bekannt sind.

Cyrielle Huguenot, Zentralsekretärin Gleichstellungspolitik beim SGB, sagt:

Gerade in Pflege und Kinderbetreuung droht die Initiative Lohndumping zu fördern. Frauen würden als billige Arbeitskräfte eingesetzt, anstatt dass wir endlich in faire Löhne, Ausbildung und gute Arbeitsbedingungen investieren.

SP-Nationalrätin Martine Docourt aus Neuenburg warnte bereits während der parlamentarischen Debatte: «Die Initiative würde schlecht bezahlte Arbeitsplätze schaffen, die an Personen ohne Qualifikation vergeben werden, obwohl wir in mehreren Bereichen bereits heute unter Fachkräftemangel leiden. Und sie würde auf Kosten der Frauen die ohnehin geringe Entlohnung der Care-Arbeit zementieren.»

Klar ist: Wenn Spitäler, Heime oder Kitas auf schlecht bezahlte Dienstpflichtige zurückgreifen können, sinkt der Druck, reguläre Stellen zu schaffen. Denn warum sollte die Direktorin eines Pflegeheims eine Fachfrau zum Lohn von 5000 Franken anstellen, wenn es auch Zwangsverpflichtete gibt? Eben.

Militär first, Frauen second

Bei genauerem Hinsehen ist auch die vermeintliche Offenheit der Service-Citoyen-Initiative trügerisch. Die Armee und der Zivilschutz sollen ausdrücklich gesichert werden, der Zivildienst hingegen wird nicht einmal erwähnt. Damit wird die Hierarchie der Dienste zementiert: Armee zuerst, Zivilgesellschaft zuletzt.

Die Neuenburger Grünen-Nationalrätin Clarence Chollet, Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, sagt:

Es wird eine Dienstpflicht für Frauen eingeführt, wobei die Armee Priorität erhält. Laut einer Studie waren jedoch fast die Hälfte der Frauen im Militär mit Diskriminierung oder sexueller Gewalt konfrontiert. Frauen sollten sich dem nicht aussetzen müssen.

Die Initiative nennt sich zwar «Service citoyen» – also «Bürgerdienst» –, ignoriert aber die alltägliche «Bürgerinnen-Arbeit»: die unbezahlte Pflege der Alten und Kranken, die Betreuung der Kinder und all die anderen Care-Aufgaben, die das Land zusammenhalten.

Zwangsarbeit?

Martine Docourt macht auf ein weiteres Pro­blem der Initiative aufmerksam: den möglichen Verstoss gegen internationales Recht. «Ein obligatorischer Dienst für alle Bürgerinnen und Bürger, der Tätigkeiten in Bereichen der beruflichen Sphäre umfasst, könnte nach internationalem Recht als Zwangsarbeit gelten», warnte sie im Nationalrat. Der Einwand ist nicht formalistisch, sondern grundlegend: Freiwilliges Engagement lebt von Freiheit, nicht von staatlicher Pflicht.

Auch Fabian Molina, SP-Nationalrat aus Zürich, weist darauf hin, dass die Initiative gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Verbot von Zwangsarbeit verstösst – und damit ein Menschenbild offenbart, das Bürgerinnen und Bürger nur dann für solidarisch hält, wenn man sie dazu zwingt.

Fortschritt sieht anders aus

Wer Gleichstellung ernst meint, stärkt die Rechte und Einkommen der Frauen, bevor er sie mit einem Zwangsdienst belastet. Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern will, investiert in Bildung, Pflege und Integration.

Kurz gesagt: Der «Service Citoyen» ist das Gegenteil eines Fortschrittsprojekts – er vermehrt die unbezahlte Arbeit von Frauen, gefährdet Löhne in sensiblen Branchen und ersetzt echte Solidarität durch einen Zwangsdienst.

Oder, noch kürzer: Die Initiative mag gut gemeint sein, ist aber gefährlich schlecht gemacht.

Abstimmungsumfragen: Deshalb bricht die Zustimmung so massiv ein

Sie kam irgendwie sympathisch daher, die Service-Citoyen-Initiative. Und genoss entsprechend Zustimmung in der Bevölkerung. In der ersten Abstimmungsumfrage von Tamedia, durchgeführt vom Institut Leewas, gaben 51 Prozent der Befragten an, die Initiative anzunehmen. Auch bei der ersten SRG-Umfrage, durchgeführt von GFS Bern, kam die Initiative für einen Bürgerdienst für alle mit 48 Prozent Zustimmung gut weg.

Aber eben, das war zu Beginn der Kampagnen-Phase. Mittlerweile wurde viel über die Initiative diskutiert und die Gegnerinnen haben das Stimmvolk mit ihren Argumenten mehr überzeugt als die Befürworter. Heute haben sowohl SRG als auch Tamedia die Ergebnisse ihrer zweiten Abstimmungsumfragen publiziert – und die Zustimmung für die Initiative ist regelrecht eingebrochen. Bei SRG kommt sie nur noch auf einen Ja-Stimmen-Anteil von 32 Prozent, bei Tamedia fällt der Zustimmungswert mit 28 Prozent gar noch tiefer aus. 

Das Argument, das gemäss Tamedia-Umfrage die meisten überzeugt hat: Die Initiative bestraft die Frauen. Ihre Mehrfachbelastung würde nämlich deutlich erhöht, obwohl sie heute bereits den Grossteil der Care-Arbeit leisten. Das bürgerlichen Argument, wonach die Initiative der Wirtschaft schaden könnte, kommt gemäss Tamedia erst an zweiter Stelle. In der SRG-Umfrage schwingt das Kostenargument obenaus: 70 Prozent im Nein-Lager geben an, dass die Mehrkosten für Bund und Kantone zu hoch seien. (pam)

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