Die Helfenden rufen um Hilfe
400 Mitarbeitende von «Mitmänsch Oberwallis» sind am Anschlag

Sie kümmern sich mit Herzblut um Menschen mit Behinderungen. Doch jetzt schlagen Mitarbeitende im Wallis Alarm. Weil die Zustände im Betrieb ihre Gesundheit gefährden – und das Wohl der betreuten Menschen.

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SIE SORGEN FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN: Doch das Personal bei der Stiftung «Mitmänsch Oberwallis» ist überlastet. (Symbolbild: Keystone)

«Das ist fahrlässig.» Den Satz sagen Mitarbeitende der Stiftung «Mitmänsch Oberwallis» im Gespräch mit work mehrmals. Sie betreuen Menschen mit Beeinträchtigungen – in Schulen, Wohngruppen, Tagesstätten, von Mörel bis Gampel. Rund 400 Mitarbeitende hat die Stiftung.

Was sie berichten, ist happig. Immer weniger von ihnen müssten zu den teils schwer beeinträchtigten Bewohnerinnen und Klienten schauen, mit kaum mehr fachlicher Unterstützung und in einem Arbeitsklima, das zunehmend unhaltbar werde. Der Sozialpädagoge Dominik Hasler* etwa sagt, dass er immer wieder Dienste kurzfristig übernehmen müsse, wenn jemand ausfalle: «Es kommt vor, dass ich in einem Monat 50 Überstunden mache» – also mehr als eine Woche, die er zusätzlich zu seinem Vollzeitpensum arbeitet.

Diese Überlastung hat Folgen. Mehr und mehr Mitarbeitende werden krank oder kündigen. Andrea Bertschi*, ebenfalls Sozialpädagogin, sagt:

Wir haben extrem viele Ausfälle. Auch weil unterdessen viele die Nase voll haben. Wir sind nicht länger bereit, den Zustand mitzutragen.

Und der Betrieb habe grosse Mühe, Abgänge zu ersetzen. Wegen dem Fachkräftemangel – und weil die Stiftung mittlerweile einen schlechten Ruf habe.

In Appenzell unbeliebt: die neue Chefin

Die Missstände sollen auch mit der neuen Direktorin Alexandra Horvath zu tun haben, seit anderthalb Jahren am Ruder. Zuvor war sie sieben Jahre lang Direktorin der Strafanstalt Gmünden AR – und sorgte dort mehrmals für Schlagzeilen. Laut «St. Galler Tagblatt» setzte kurz nach ihrem Amtsantritt ein wahrer Exodus von Mitarbeitenden ein: Innert zweier Jahre hätten zwei Drittel gekündigt. Die Gründe: «schlechtes Arbeitsklima, rigider Führungsstil, respektloser Umgang, stark erhöhter Leistungsdruck». Im Januar 2023 kündigte Horvath ihrerseits; über die Gründe wurde Stillschweigen vereinbart. Erst im Nachhinein kam ans Licht: Im Jahr vor ihrem Abgang hatten schon wieder zwei Drittel der Belegschaft den Bettel hingeworfen.

IN DER KRITIK: Direktorin Alexandra Horvath. (Foto: Stiftung «Mitmänsch»)

Die beiden Fachkräfte bei «Mitmänsch» stellen klar: Sie lieben ihren Beruf. Bertschi: «Wir geben alles, damit es unsere Klientinnen und Klienten gut haben.» Umso mehr schmerzt es die beiden, dass sie wegen der Überlastung Abstriche in der Qualität ihrer Arbeit machen müssen. Dominik Hasler nennt ein Beispiel: Die Leute in den Wohngruppen sollen, soweit sie können, ihr Zimmer selber putzen. Doch wenn er alleine eine Gruppe betreuen muss, reiche die Zeit dafür nicht: «Es geht schneller, wenn ich putze, statt sie dabei anzuleiten. Damit nehme ich ihnen aber ein Stück Selbständigkeit weg, statt sie zu fördern.»

Förderung? Nicht nötig

Leider sei das symptomatisch für die neue Direktorin. Den Mitarbeitenden werde vermittelt, es sei zu teuer und auch nicht nötig, die Menschen mit Beeinträchtigung zu fördern. Hasler sagt:

Mir scheint, sie möchte diese Menschen irgendwo versorgen, ihnen zu Essen geben und gut ist.

Wie gravierend die Situation ist, erlebte er, als er während einer Nachtschicht krank wurde: «Ich musste erbrechen und rief an, damit mich jemand ablöst. Aber es kam niemand.» Also blieb er und machte das Frühstück – wohl wissend, dass er seine Krankheitskeime an die Bewohnerinnen und Bewohner weitergab.

Bedenklich auch, was Andrea Bertschi berichtet: Je nach Art der Behinderung brauche es besondere Kenntnisse. Etwa, wie man einer Person den Hirndruck messe. Oder jemanden, der nicht schlucken kann, mit einer Sonde ernährt. «Pflegende zeigen uns in Schulungen, worauf wir achten müssen. Durch die vielen Wechsel werden jetzt immer wieder Leute eingeteilt, die solche Sachen ohne Schulung machen müssen. Das ist doch fahrlässig!»

Nur noch Billig-Food?

Kommt dazu, dass im Betrieb offenbar wichtige Leitungs- und Fachstellen entweder mit unqualifiziertem Personal oder gar nicht mehr besetzt werden. Laut Bertschi ist derzeit niemand für die Ausbildung von Praktikantinnen oder Lernenden zuständig. Ebenfalls fehle eine Ansprechperson für schwierige Fälle, nachdem der bisherige Stelleninhaber den Betrieb verlassen habe. Laut dem «Walliser Boten» hat Direktorin Horvath diese Aufgabe übernommen, «obwohl sie keine fachliche Ausbildung dafür habe». Stellenprozente gestrichen wurden offenbar auch bei den sieben Abteilungsleitungen, derzeit seien nur gerade vier im Einsatz. All diese Lücken führten dazu, dass sie und ihre Kolleginnen zunehmend auf sich gestellt seien, auch in belastenden Situationen.
Gespart werde auch am Essen der Menschen in den Wohngruppen, die Direktorin kontrolliere jeden Kassenzettel. «Wer Bio-Produkte einkauft, bekommt einen Rüffel.»

Sie wehren sich – und werden gehört

Doch jetzt regt sich Widerstand. Mehrere Mitarbeitende wandten sich an den «Walliser Boten» und suchten Unterstützung bei der Unia. Ein erster Zeitungsartikel machte die Missstände publik, kurz darauf veröffentlichten die Mitarbeitenden auf der Unia-Website einen Appell, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen (zum Aufruf). Der Leiter der Unia Oberwallis, Martin Dremelj, sagt:

Im konservativen Wallis eckt die Unia oft an. Aber den Appell haben innerhalb von nur zwei Tagen 1600 Leute unterzeichnet! So viel Solidarität aus der Bevölkerung hat die Mitarbeitenden sehr gefreut.

UNTERSTÜTZT DIE BETROFFENEN: Unia-Mann Martin Dremelj. (Foto: zvg)

Der Kanton hat jetzt angekündigt, eine externe, unabhängige Stelle solle die Stiftung überprüfen und dazu auch vertrauliche Gespräche mit den Mitarbeitenden führen. «Ein Teilerfolg», sagt Dremelj, «aber wir sind noch lange nicht am Ziel.» Davon zeugt auch die Reaktion des Stiftungsrats. Der stellte sich «geschlossen» hinter die kritisierte Direktorin und spielte die Probleme als «Transformationsprozess» hinunter. In einem Brief an die Belegschaft schreibt er, die Zustände, die Mitarbeitende im Zeitungsartikel geschildert hätten, gäben «kein faires Bild unserer täglichen Arbeit wieder».

Auf die besorgten Fachkräfte habe der Brief wie eine Ohrfeige gewirkt, sagt Dremelj. «Sie mussten feststellen, dass beim Stiftungsrat null Einsicht vorhanden ist und auch keine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.» Jetzt seien die Mitarbeitenden daran, konkrete Forderungen zu erarbeiten, was sich bessern müsse – und zwar nicht erst dann, wenn die Überprüfung abgeschlossen sei.

Über etwas ist Sozialpädagoge Hasler dennoch erleichtert: Dass die Zustände bei «Mitmänsch» jetzt öffentlich sind. Das habe auch im Betrieb etwas verändert, stellt er fest. Früher hätten viele Kolleginnen und Kollegen Angst gehabt. «Aber jetzt reden die Leute offen miteinander. Das gibt mir Hoffnung.»

*Namen geändert

Stiftungsrat: Nur wenige «schwierige Situationen»

Gegenüber work stellt die Leitung von «Mitmänsch Oberwallis» die Missstände als Ausnahmen dar. Nicole Ruppen, Präsidentin des Stiftungsrats, schreibt, es sei in «3 von 22 Wohngruppen zu schwierigen Situationen gekommen», was der Stiftungsrat «bedauere». Aus allen anderen Tätigkeitsfeldern der Stiftung wie der Heilpädagogischen Schule, dem Stützunterricht in den öffentlichen Schulen oder den Tages- und Werkstätten «sind uns keine negativen Rückmeldungen bekannt».

Dieser Darstellung widerspricht Martin Dremelj von der Unia Oberwallis dezidiert: In der Unia-Betriebsgruppe seien Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen der Stiftung aktiv. «Die Missstände beschränken sich bei weitem nicht auf die Wohngruppen.» Auch hätten zahlreiche Leute in ihrem Kommentar beim Unterzeichnen der Petition von Problemen in anderen Bereichen berichtet.

Warum der Stiftungsrat Alexandra Horvath als Direktorin einsetzte trotz bereits damals bekannter Kritik an deren Führungsstil und dem Arbeitsklima, das will Präsidentin Ruppen nicht beantworten. Sie versichert aber: «Wir bemühen uns, unsere Institution stetig zu verbessern.»

Für den Bereich Wohnen habe man eine «externe Fachperson beigezogen, welche die Situation unbürokratisch noch im Monat November aufnehmen und in einem partizipativen Prozess begleiten wird.» Im Oktober 2025 habe zudem eine Befragung der Mitarbeitenden stattgefunden, die derzeit ausgewertet werde. Die Resultate würden «uns sicher wertvolle Hinweise geben, an denen wir arbeiten können. Wir möchten auch die interne Kommunikation verbessern.»

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