Fachärztin Elisabeth Balint sagt im Interview mit work, was einen gesunden Job ausmacht
«In einem Betrieb muss es fair zugehen»

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Wie kündigt sich ein Burnout an? Was kann ein Betrieb für die mentale Gesundheit seiner ­Mitarbeitenden tun? work im Gespräch mit ­Elisabeth Balint, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und leitende Ärztin an der Privatklinik Meiringen.

FACHÄRZTIN ELISABETH BALINT: «Wer nicht mehr entspannen und vom Job abschalten kann, sollte etwas ändern.» (Foto: ZVG)

work: Elisabeth Balint, mit welchen Diagnosen kommen die Menschen zu Ihnen, und welche Unterstützung erhalten sie in der Klinik?
Elisabeth Balint: Am häufigsten mit Depressionen und Angststörungen. In der Klinik erhalten sie ein vielseitiges Therapieprogramm. Dazu gehören Grundlagen wie die klare Struktur und Routine auf der Station sowie eine jederzeit ansprechbare Pflegeperson. Durch Ateliers für kreative Tätigkeiten können sie wieder Selbstwirksamkeit erfahren. In der Psychotherapie unterstützen wir, die eigenen Denk- und Verhaltensmuster zu verstehen. Weitere Therapien wie Körper-, Kunst- und Musiktherapie versuchen, dies auf anderem Weg als über Sprache zu erreichen. Der ganze Prozess wird durch die richtigen Medikamente unterstützt. Wichtig ist auch die Sozialberatung, in der es um berufliche Fragen geht: Wie geht es weiter nach der Krankschreibung? Kann und will ich wieder an meinen Arbeitsplatz zurück?

Wie oft ist die Arbeit der ­Auslöser für psychische ­Erkrankungen?
Wenn ein Klinikaufenthalt nötig ist, sind die Betroffenen meistens seit längerer Zeit in mehreren Bereichen belastet. Wenn es zum Beispiel nur in der Beziehung oder nur bei der Arbeitsstelle schwierig ist, lässt sich das oft noch ausgleichen. Die Arbeit ist aber ein wichtiger Teil des Lebens, für gewöhnlich stützt sie unser Selbstwertgefühl, ist sinnstiftend und gesunderhaltend.

Welche Faktoren aus dem Arbeitsalltag erleben Sie in der Klinik am häufigsten als Auslöser oder Verstärker von psychischen Belastungen?
Schwierig wird es oft, wenn die Mitarbeitenden wenig oder unklare Rückmeldungen von den Vorgesetzten bekommen, Entscheidungen intransparent sind oder ungerecht erscheinen. Eine zu hohe Last an Aufgaben bei gleichzeitig wenig eigener Kontrolle darüber ist ebenfalls ein Risikofaktor. Dann spielt auch die eigene Persönlichkeitsstruktur eine Rolle: überhöhte Ansprüche an sich selbst oder das Umfeld, Überengagement in der Arbeit und das Fehlen eines sozialen Umfelds ausserhalb der Arbeit. Was schliesslich der Auslöser für zum Beispiel eine Depression ist, kann schwer geklärt werden. Wir versuchen, der «Schuldfrage» keine wesentliche Rolle zu geben. Stattdessen überlegen wir gemeinsam mit den Betroffenen, wie und wo sie handeln können.

Welche Rahmenbedingungen müssen in einem Betrieb gegeben sein, damit die mentale Gesundheit nicht leidet?
Da ist zum einen die Organisations­gerechtigkeit: Das bedeutet, es muss in einem Betrieb fair zugehen. Zum andern die Führungsstruktur, hier sind Verlässlichkeit und Sicherheit zwei wichtige Stichworte. Der Betrieb kann für ein Klima der Sicherheit sorgen. Auch ein respektvoller Umgang im Team ist wichtig. Und die Arbeitslast muss zum Mitarbeitenden und seinen Kompetenzen passen. Also umgekehrt formuliert: Überforderung, ein Klima der Angst und Ungerechtigkeit sind Faktoren, die der mentalen Gesundheit schaden.

Gibt es politische Veränderungen, die aus Ihrer Sicht dringend nötig wären, um die psychische Belastung im Arbeitsleben generell zu ­verbessern?
Der Kündigungsschutz ist in der Schweiz für viele Betroffene ein Problem. In Deutschland sind krank geschriebene Mitarbeitende für anderthalb Jahre vor einer Kündigung geschützt. Sie haben Zeit zu genesen, ohne Angst, die Arbeitsstelle zu verlieren – und die Wiedereingliederung ins Berufsleben gelingt dadurch leichter. In der Schweiz dauert der Kündigungsschutz meist nur wenige Monate. Eine Kündigung bedeutet für die Betroffenen: ein weiterer Rückschlag, eine erneute Belastung. Die entstehende Lücke im Lebenslauf erschwert den Bewerbungsprozess. Wird die psychische Erkrankung offen kommuniziert, erhalten die Bewerber häufig Absagen – und diese sind schon für gesunde, unbelastete Menschen nicht einfach. So dauern die depressiven Symptome und eben auch die Krankschreibung länger. Das könnte mit einem besseren Kündigungsschutz aufgefangen werden. Ausserdem ist auch das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht ein Problem.

Inwiefern?
Wer hohe Schulden anhäuft, wird sie ein Leben lang kaum mehr los. Ich habe schon einige Patientinnen und Patienten erlebt, die die Pro­blematik, die sie zu den Schulden geführt hat, nach Jahren der Therapie überwunden haben. Doch wegen der hohen Schulden haben sie keine Perspektive und keine Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Ich finde, da müsste es auch in der Schweiz die Option geben, die Schulden zu erlassen.

Beruflichen Stress oder ­belastende Phasen kennen die meisten. Doch wann sollten Betroffene genauer hinschauen und sich Hilfe holen?
Wer nicht mehr entspannen und vom Job abschalten kann, sollte etwas ändern. Weitere Warnzeichen sind zum Beispiel Gereiztheit, Sarkasmus, schlechter Schlaf. Auch wenn im Beruf mehr Fehler passieren und der Stress die Beziehung belastet, sollte man sich ambulante Unterstützung holen.

Wer kann helfen?
Eine gute erste Anlaufstelle ist die Hausärztin oder der Hausarzt. Sie oder er kennt den Betroffenen bereits und kann ihn bei Bedarf an eine Psychiaterin oder einen Psychologen überweisen. Letztere sind die Fachpersonen, die unmittelbar eine Behandlung durchführen können. Gespräche mit vertrauten Personen können hilfreich sein durch die ehrliche Rückmeldung zu bestehenden Symptomen.

Was kann man selbst dafür tun, um gesund zu bleiben?
Unter dem vielen, was man selbst tun kann, möchte ich besonders das Abschalten und Entspannen betonen. Hilfreich sind regelmässige Entspannungsübungen, zum Beispiel mit Hilfe von Apps (siehe Spalte unten, Anm. d. R.).

Wenn ich bei einer Arbeits­kollegin oder einem Arbeitskollegen das Gefühl habe, dass sich ein Burnout anbahnen könnte: Wie gehe ich am besten vor?
Erst mal ist es wichtig, nicht zu schnell Zuschreibungen zu machen. Nicht jede Gereiztheit ist ein Burnout. Diabetes kann zum Beispiel am Anfang ähnliche Sym­ptome auslösen. Am besten fragen Sie die Person bei Gelegenheit, wie es ihr geht. Beschreiben Sie urteilsfrei, wie Sie die Person wahrnehmen, was Sie beobachten. Und ermutigen Sie sie, ­professionelle Unterstützung zu suchen.

Wie geht’s dir?

Die Kampagne «Wie geht’s dir?» wurde von verschiedenen Kantonen und der Stiftung Pro Mente Sana ins Leben gerufen. Auf der Website wie-gehts-dir.ch finden sich viele konkrete Tipps, um die Psyche zu stärken, dazu einen Selbstcheck und Adressen von ­Anlaufstellen – online und ­persönlich –, die professionelle Unterstützung bei psychischen ­Belastungen anbieten. Die gleichnamige App bietet konkrete Übungen, die helfen, die psychische ­Gesundheit zu stärken.


AppsAtmen hilft

Kleine Sache, grosse ­Wirkung: Regelmässige ­Entspannungs- und Atemübungen haben einen nachweislich positiven Effekt auf das Stressempfinden und können bei Angststörungen helfen. Apps, die beim bewussten Atmen helfen sollen, gibt es viele. Fachärztin Elisabeth Balint empfiehlt zum Beispiel die App Breath Ball: Die Nutzenden folgen einem Ball auf seiner Bahn und atmen in ihrem Rhythmus ein und aus. «Die App ist kostenlos und auf das Wesentliche reduziert. Schon 15 Minuten täglich sind wirksam», so Balint. Weitere Entspannungs-Apps:

Medito: Das Non-Profit-Projekt finanziert sich durch Spenden und ist für Nut­zende kosten- und werbefrei. Die englischsprachige App enthält geführte Meditationen, Atemübungen, Schlafgeschichten und ­Naturgeräusche.

Mydidation: Die deutschsprachige App bietet Meditationen, Kurse, Musik, Hypnosen, heilende Frequenzen und entspannende Hintergrundgeräusche. Ein Grundstock an Meditationen ist kostenlos nutzbar, Premium­inhalte sind nur mit Abo ­zugänglich.

UCLA Mindful: Die App ist komplett kostenlos, und die Meditationen sind in ­verschiedenen Sprachen abrufbar, etwa in Englisch, ­Italienisch und Französisch, in Deutsch allerdings nicht. Das Angebot reicht von Grundmeditationen über ­Podcasts bis hin zu Videos zum Thema Achtsamkeit.

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