GL-Kandidatin Silvia Locatelli
Eine Rebellin mit ­Expertise und Talent

Ungerechtigkeiten hat Silvia Locatelli schon als Kind nicht akzeptiert. Diese ­Revolte hat sie nie aufgegeben. Mit work spricht die Kandidatin für die Unia-­Geschäftsleitung über ihre Herkunft, Höhepunkte – und über Zwift.

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SILVIA LOCATELLI: «Viele Menschen fühlen eine reale materielle Unsicherheit. Das schürt Angst. Diese Angst wiederum erschwert unsere ­gewerkschaftliche Arbeit. Und macht viele Menschen empfänglicher für einfache Lösungen à la SVP.» (Foto: Matthias Luggen)

Die Liebe zum Echten. Vielleicht ist es das, was Silvia Locatelli (46) am meisten auszeichnet. Spricht sie über ihr gewerkschaftliches Engagement, nennt sie es «echte Arbeit, nahe bei den Menschen». Für sie ist klar: «Ich würde keinen anderen Job wollen. Ich habe das während fünf Jahren beim Kanton versucht.» Als Locatelli die Unia temporär verliess, war Catherine Laubscher Regioleiterin in Neuenburg. Zu work sagt sie heute: «Am selben Tag, als Silvia kündigte, habe ich mit meinem Auto in der Garage eine Wand geschrammt, so sehr hat mich das mitgenommen.»
Locatellis Eltern kamen aus dem Franco-Spanien in die Schweiz. Der Vater arbeitete in einem Restaurant, die Mutter war Zimmermädchen in einem Hotel. Ihnen gelang es relativ rasch, sich vom Saisonnierstatus zu befreien. Doch ihr erweiterter Fami­lienkreis war geprägt von Trennungen: «Jemand fehlte immer.» Für die Geburt ihrer älteren Schwester ging die Mutter nach Spanien. Und kam ohne Baby zurück in die Schweiz. Die Einkommenssituation der Eltern war prekär, sie sahen sich nicht in der Lage, für zwei Kinder zu sorgen. «Das war schrecklich,» sagt Locatelli.

Rebellin

Ihre Mutter hatte einen Vollzeitjob und schmiss zusätzlich die ganze Haus- und Familienarbeit. Für ihren Vater war bei den Frauen die Hausarbeit angeboren. Und schon früh war Locatelli fasziniert von der Politik. Sie kannte die Namen aller Bundesräte. Ihre Schweizer Gspänli hingegen nicht. Unverständlich für Silvia, wieso diese später trotzdem würden wählen und ­abstimmen dürfen! Ungerechtigkeit konnte Locatelli weder als Frau noch als Mi­grantin akzeptieren. In ihrer «traditionellen, patriarchalen Familie» war Locatelli eine Rebellin. Vielleicht sagt Regio­präsident Christian Weber deshalb heute:

Sie hätte auch zur extremen Linken gehen können. Stattdessen hat sie ihre Revolte zu einer sehr effizienten Waffe gemacht, mit Expertise und Talent.

Verhandlerin

Nach ihrem Jusstudium stiess sie 2009 als Industriesekretärin zur Unia Neuenburg. In der Unia habe sie sich als Frau und Migrantin nie benachteiligt gefühlt. Später dann, als Bau-Sekretärin, habe ihr geholfen, dass sie aus der spanischen Provinz Galicien stammt, wo fast alle portugiesisch sprechen, wie viele Baubüezer auch.

Seit 2021 leitet Locatelli als Regiosekretärin die Unia-Region Neuenburg. Präsident Weber sagt:

Sie ist leidenschaftlich dabei, verliert aber das Grosse und Ganze nicht aus den Augen. Und: Ihr geht es immer um die Sache.

Wenn es sein müsse, lege sie Vollgas los. «Das Verhandeln hat sie im Blut!» Gleichzeitig habe sie die beeindruckende Fähigkeit zuzuhören und zeige viel Mitgefühl für die ­Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter. Uhrenarbeiterin Suzanne Zaslawski bezeichnet sie als «Dirigentin». Als es für Zaslawski nach dem Frauenstreik 2023 im Betrieb etwas brenzlig wurde, wusste sie: «Silvia wird uns nicht fallenlassen. Sie bestärkt uns. Ich vertraue ihr.»

Zuhörerin

Besonders die Streiks auf dem Bau sind für Locatelli immer wahnsinnig starke Momente. Weil die Leute von Stolz ergriffen würden, «für ihre Sache einzustehen». In Erinnerung geblieben ist ihr auch 2014, als Neuenburg als erster Kanton den Mindestlohn einführte (der dann erst 2017 in Kraft trat). Schwieriger seien Situationen, in denen mit einer missverständ­lichen Kommunikation das Vertrauen der Leute zerstört werde. «Dieses Vertrauen wieder aufzubauen kann Jahre dauern.»
Und was hört sie, die nahe an den Menschen ist? «Viele fühlen eine reale materielle Unsicherheit. Das schürt Angst. Diese Angst wiederum erschwert unsere gewerkschaftliche Arbeit. Und macht viele Menschen empfänglicher für einfache Lösungen à la SVP.» Deshalb ist für sie klar: Die Gewerkschaften müssen konsequent die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter vertreten.

Ich bin absolut überzeugt, dass wir einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel brauchen. Und dieser Wandel wird über die Gewerkschaften kommen.

Industrie-Kennerin

In der Geschäftsleitung wird Locatelli wahrscheinlich den Sektor Industrie übernehmen. Sie sagt: «Ich arbeite gerne auf dem Terrain, um konkrete Ergebnisse zu erzielen. Ich interessiere mich weniger für die Theorie als für die Praxis.» Unia-Präsidentin Vania Alleva sagt über ihre mögliche zukünftige GL-Kollegin: «Silvia ist nicht nur eine überzeugende Rednerin, sie denkt auch schnell und präzis.» Locatelli habe einen klaren Kompass. Und besonders wertvoll: «Sie hat den Job von der Pike aus gelernt.» Eine Stärke seien auch ihre grossen Kenntnisse der Industrie und ihre Verankerung in der Branche.

Zwifterin

Silvia Locatelli hat zwei erwachsene Kinder, die «im Zentrum» ihres Lebens stehen. Sie liebt die Natur, die Berge. Die letzten Sommerferien hat sie in den Dolomiten verbracht. Und sie ist Frühaufsteherin. Morgens um 5 Uhr geht’s los: im Sommer joggen oder walken. Im Winter schwingt sie sich aufs Zwift, ein zum Hometrainer umfunktioniertes Velo. «Das mache ich, um mich zu ­beruhigen.» Ob das wirkt? Pedalieren im Stillstand scheint sonst so gar nicht ihr Ding.

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