Ein Vielleser mit dem Flair, grosse Projekte ohne grossen Wirbel umzusetzen. Das ist Timur Öztürk, Kandidat für die Unia-Geschäftsleitung. Und seine Wahl wäre eine Premiere: das erste GL-Mitglied aus der Unia-Arbeitslosenkasse.

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TIMUR ÖZTÜRK: «KI ist für die Gewerkschaft eine Chance. Aber: Künstliche Intelligenz ersetzt nicht die menschliche.» (Foto: Matthias Luggen)

Was haben Geschichte und Philosophie mit der Arbeitslosenkasse (ALK) zu tun? Auf den ersten Blick wenig. Doch den Widerspruch wischt Timur Öztürk (52) mit einer Handbewegung weg – und mit 30 Jahren ALK-Berufserfahrung. Bereits während des Studiums, Geschichte und Philosophie eben, hat er als Sachbearbeiter bei verschiedenen Zahlstellen in Zürich (damals noch GBI) gearbeitet. Und eigentlich hätte ihn eine Uni-Karriere gereizt. Doch stattdessen entschied er sich für eine Unia-Karriere.

Giesser-Sohn

Timur Öztürk ist als Kind türkischer Einwanderer in Winterthur aufgewachsen. Sein Vater kam in den 1960er Jahren in die Schweiz. Als Giesser folgte er dem Ruf von Sulzer. Und wurde Smuv-Mitglied – so dass Timur schon früh mit der Gewerkschaft in Kontakt kam. Dass etwas am bürgerlich-wirtschaftsliberalen System in der Schweiz nicht stimme, habe er schon früh bemerkt. Zum Beispiel bei den Einbürgerungsprozessen in seiner Familie. «Diese waren sehr erniedrigend.» Oder später bei der fremdenfeind­lichen SVP-Ausschaffungsin­itiative, die dazu führte, dass Menschen doppelt bestraft werden: mit der Strafe und mit der Ausweisung. Oder bei der Arbeitslosenversicherung. Öztürk sagt:

Die ganze Arbeitslosenversicherung ist so aufgebaut, dass sie die Menschen abschrecken soll.

Das habe auch Vorteile, weil die Menschen möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt zurückgeführt würden. Aber: «Es kann nicht sein, dass Menschen in prekären Situationen in dieser Maschinerie nicht besser geschützt werden.» Oft hat er erlebt, dass Menschen am Schalter in Tränen ausgebrochen sind, weil sie vor dem finanziellen Ruin standen.

Gmögiger Typ

Timur Öztürk wäre das erste Mitglied der Unia-Geschäftleitung aus der ALK. Zuerst sei sie deswegen etwas irritiert gewesen, sagt die ehemalige Frauenpräsidentin und engagierte Pensionierte Ursula Mattmann. «Wieso jemand aus der ALK?» Doch jetzt ist sie überzeugt:

Es ist wichtig, dass jemand mit einer ganz anderen Perspektive in die GL kommt.

Öztürk erkenne die drängendsten Probleme der Gewerkschaft, sei sehr kundenorientiert und überhaupt ein «gmögiger Typ». Wichtig auch: Er versteht die Situation von Migranten und Migrantinnen aus eigener Erfahrung.

Schlüsselperson

Seit 2005 ist Öztürk in führenden Positionen bei der ALK tätig. Überhaupt, die Unia-ALK: ein Erfolgsmodell. Nicht zuletzt wegen des grossen Reformprojekts «ALK 2.0», das Öztürk geleitet hat. Das Projekt hat dafür gesorgt, dass die Unia-ALK in der ganzen Schweiz als Einheit auftritt. Öztürk sagt: «Wir konnten an Bedeutung und Qualität zulegen.» Mit Qualität meint Öztürk konkret:

Wir sprechen von Arbeitslosen, von Menschen in oftmals schwierigen Situationen. Deshalb ist es wichtig, dass wir schnell bezahlen, dass wir besser informieren, dass die Verfügungen klar sind, dass wir besser erreichbar sind.

Heute ist die Unia-ALK mit einem Marktanteil von fast 30 Prozent die grösste Kasse der Schweiz.

Für Unia-Finanzchef Martin Tanner ist klar: Timur Öztürk war die «Schlüsselperson für die Reorganisation der ALK. Er schafft es, grosse Projekte ohne grossen Wirbel erfolgreich umzusetzen.» Das sei ihm auch deshalb gelungen, weil er «strategisch und prozessstark» sei. Und weil er den Betroffenen zuhöre und es ihm damit gelinge, alle an Bord zu holen.

Was ist das Öztürk-Rezept bei der Umsetzung dieser Megaprojekte? «Ich bin kein Master!» sagt er lachend. An erster Stelle stünden die Menschen, die vom Projekt betroffen seien. Und die Risiken, die ohne Scheuklappen genannt werden müssten. Wichtig auch: Jedes Projekt sei ein Veränderungsprozess, deshalb müssten die Beteiligten laufend informiert werden. Und: es brauche eine Dringlichkeit, sonst gehe es in solchen Projekten nicht vorwärts. Doch auch beim ALK-Erfolgsprojekt lief nicht alles rund. Öztürk hatte den ALK in den Regionen versprochen, sie müssten sich nicht mehr um die Telefonanrufe kümmern. Doch das liess sich zuerst überhaupt nicht umsetzen. «Daraus ergab sich eine Frustration, die sich auch gegen mich richtete.»

KI-Kenner

Mensur Ademi, Stv. Leiter ­Finanzen und Controlling Unia-ALK, arbeitet sehr eng mit Öztürk zusammen. Er sagt:

Noch nie hatte ich einen besseren Chef, weder menschlich noch fachlich. Er ist einfach cool!

Öztürk sei intelligent, denke unglaublich vernetzt und könne rasch neue Lösungen aufzeigen. Natürlich sei er traurig, ihn als Chef zu verlieren. «Aber wenn er gewählt wird, werde ich trotzdem feiern!»

In der Unia-Geschäfts­leitung möchte Öztürk seine Erfahrung vor allem für die Mitgliederentwicklung einbringen. Hilft da auch künstliche Intelligenz? «KI ist für die Gewerkschaft eine Chance», ist Öztürk überzeugt. Aber: «Künstliche Intelligenz ersetzt nicht die menschliche.» KI müsse ergänzend sein und wohlüberlegt. Denn wenn man aus einem ohnehin schon schlechten Prozess einen digitalen mache, dann sei das Resultat ganz einfach ein schlechter digitaler Prozess.

Vielleser

Öztürk hat einen 14jährigen Sohn. In seiner Freizeit liest er gerne. Sein Lieblingsbuch: «Midnight’s Chil­dren» des indischen Schriftstellers Salman Rushdie. Und er ist Mitglied in einem Literaturclub. Öztürk präzisiert: «Also eher ein Treffen unter Freunden, bei dem wir ein Buch lesen und gemeinsam analysieren.» Ganz der Akademiker mit Unia-Karriere.

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