Unia-Bauchef Nico Lutz warnt vor weiteren Verzögerungen:
«… dann wird es einen landes­weiten Branchenstreik geben»

Obwohl der Bauvertrag in zwei Monaten ­ausläuft, ist ein neuer noch ­nirgends in Sicht. Unia-Verhandlungs­leiter Nico Lutz (54) erklärt, wie es so weit ­kommen konnte, was die Baumeister-­Spitze ihren Sektionen ­verheimlichte und ­warum eine ­Verlängerung des Status quo nicht in Frage kommt.

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UNIA-VERHANDLUNGSLEITER NICO LUTZ: «Kein Wunder, laufen so die Leute davon. Aber es ist keine Hexerei. Man muss einfach mehr auf die Arbeitenden hören.» (Foto: Yoshiko Kusano)

work: Herr Lutz, vier von fünf Verhandlungsrunden für einen neuen LMV (Landesmantelvertrag) sind durch. Wo stehen wir?
Nico Lutz: Noch gar nirgends!

Bitte, was?
Es ist noch keinerlei Einigung in Sicht. Und das liegt an der Verweigerungs- und Verzögerungshaltung des Baumeisterverbands (SBV), die diesmal besonders ausgeprägt ist.

Okay, lassen Sie uns etwas diplomatischer beginnen, zum Beispiel mit den nackten Zahlen. Wie geht es der Bauwirtschaft aktuell?
In den letzten zwanzig Jahren ging es in der Bauwirtschaft nur in eine Richtung, nämlich aufwärts. Corona gab natürlich eine Delle. Doch seither gab es neue Rekorde bei Baugesuchen und Umsätzen. Für einen Einbruch der Bauwirtschaft gibt es heute keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil: In der Schweiz haben wir viele Gebäude, die noch aus der Nachkriegszeit stammen. Diese müssen in den kommen Jahren definitiv saniert oder durch Neubauten ersetzt werden. Bahnstrecken und Autobahnen werden saniert. Ein enormes Auftragsvolumen …

Arbeit gibt es also mehr als genug. Und Arbeiter?
Da ist es ganz prekär! Jeder zweite ausgelernte Maurer verlässt die Branche im Lauf seiner Karriere. Jeder zehnte tut dies schon innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Lehre – diese Zahl ist dreimal höher als bei den übrigen Berufen. Die Lernendenzahlen haben sich zwar etwas erholt, bewegen sich aber immer noch circa auf der Hälfte des Niveaus von vor zehn Jahren. Wenn es so weitergeht, fehlen der Branche bis 2040 ein Drittel der nötigen Fachkräfte. Das geht aus einer Studie der Baumeister hervor.

Wollen die Jungen sich einfach die Hände nicht mehr dreckig machen?
Das ist nicht das Hauptproblem. Das Bauhauptgewerbe bietet schöne und erfüllende Berufe. Doch im Vergleich zu anderen Branchen haben sie an Attraktivität eingebüsst. Sehr lange Arbeitstage, immer mehr Termindruck, jeden Tag eine halbe Stunde Fahrzeit ganz ohne Lohn. Und dann noch die hohen Teuerungen der letzten Jahre, die teils nicht einmal ausgeglichen wurden. Kein Wunder, laufen so die Leute davon. Aber es ist keine Hexerei. Man muss einfach mehr auf die Arbeitenden hören. Ihre Hauptanliegen sind: Sicherung ihrer Kaufkraft, Einführung von familienfreundlicheren Arbeitszeiten, die Abschaffung der heute gesetzeswidrigen unbezahlten Reisezeit vom Betrieb zur Baustelle und eine bezahlte Znüni-Pause, wie sie in anderen Branchen längst Standard ist.

UNIA-MANN NICO LUTZ: «Im Vergleich zu anderen Branchen hat das Bauhauptgewerbe an Attraktivität eingebüsst.» (Foto: Yoshiko Kusano)

Klingt schlüssig! Aber für den Baumeisterverband offenbar nicht …
Nein, und sie scheinen es nicht eilig zu haben, einen neuen LMV zu verhandeln. In früheren Verhandlungen begannen wir jeweils im März und setzten sieben bis acht Runden fest. Diesmal war der SBV bis im Juli gar nicht erst zu Verhandlungen bereit. Wir kamen also massiv in Verzug. Und dann knallten sie uns im August einen angeblich pfannenfertigen Vertragstext auf den Tisch und verkündeten, das sei jetzt die gemeinsame Verhandlungsgrundlage. Ich meine, geht’s noch?

Was stört Sie derart?
So geht es doch einfach nicht! So funktionieren keine Verhandlungen. Wir sagten klar, nein, wir machen es so, wie normale Leute verhandeln. Also: Eine Forderung deponiert ihr. Eine Forderung deponieren wir. Und so weiter. Und dann Diskussion und Verhandlung.

Liegen die Zügel denn allein in den Händen des SBV?
Das glauben sie wahrscheinlich. Wir waren immer transparent und haben ihnen klipp und klar gesagt, dass eine Verzögerungs- und Verweigerungstaktik gar nichts bringe. Ausser dass die Bauarbeiter die Geduld so definitiv verlieren werden. Und jetzt sind wir so weit. Ende Dezember läuft der Vertrag aus, die Arbeiter erwarten jetzt eine Lösung.

Aber die Baumeister haben doch schon in den letzten LMV-Verhandlungen 2022 auf Zeit gespielt!
Es stimmt, dass sie damals sehr lange über angeblich «gemeinsame Interessen» redeten, aber nicht wirklich verhandeln wollten. Diesmal aber verzögern sie noch mehr. Ein Beispiel: Wir haben bereits im August vorgeschlagen, zusätzliche Verhandlungsrunden festzulegen, um zu einer Lösung zu finden. Doch der SBV hat das kategorisch abgelehnt.

Haben im SBV noch mehr die Hardliner das Sagen als früher schon?
Das werden wir sehen. Unser Eindruck ist, dass in den Verhandlungen des SBV die Kommuni­kation die Strategie bestimmt und nicht eine Strategie die Kommunikation. Wir haben in den ersten drei Verhandlungsrunden jeweils vor­geschlagen, auf eine Medienmitteilung zu verzichten, auch um die Chancen in den Verhandlungen zu verbessern. Der Baumeisterverband wollte das nicht und hat immer eine Medien­mitteilung verschickt. Er hat von einem neuen modernen LMV erzählt, den der SBV vorgeschlagen hätte und über den er mit den Gewerkschaften konstruktiv verhandeln würde. Das hatte schlicht nichts mit der Realität zu tun. Aber sie wollten einfach ihre Geschichte erzählen.

Was steht denn in diesem SBV-Entwurf?
Darin haben sie praktisch alle Verhandlungsergebnisse der letzten zehn Jahre rausgestrichen! Was der SBV fordert, sind noch längere Arbeitstage, viermal so viele Über- und Minderstunden und erst noch weniger Entschädigung, den Samstag als normalen Arbeitstag und ohne Zuschlag, Lohnkürzung bei Krankheit sowie die Halbierung der Kündigungsfristen für langjährige Bauarbeiter über 55. Ich meine: Dass auch die Baumeister Forderungen einbringen, ist normal und völlig legitim. Aber zu meinen, sie könnten ihr ganzes Wunschpaket in einen neuen Vertrag schreiben und wir würden das als Basis für die Verhandlung akzeptieren, ist kein realistischer Plan.

NICO LUTZ: «Unser Eindruck ist, dass in den Verhandlungen des SBV die Kommuni­kation die Strategie bestimmt und nicht eine Strategie die Kommunikation.» (Foto: Yoshiko Kusano)

Aber gewisse seiner Ursprungsforderungen hat der SBV doch bereits abgeschrieben!
Ja, die Regionalverträge zum Beispiel waren im ersten Entwurf, den wir erhalten haben, alle gestrichen. Solche tendenziell fortschrittlicheren Zusatzverträge gibt es ja im Tessin, im Wallis und in der Romandie. Doch die dortigen SBV-Sektionen wussten nicht einmal, dass die Zürcher SBV-Zentrale ihre Autonomie angreift.

Das müssen Sie jetzt erklären!
In den Regionalverträgen sind auch die regionalen paritätischen Fonds geregelt, die zum Beispiel berufliche Weiterbildung finanzieren. Als die Neuenburger Baumeister im dortigen Fonds, der von Arbeitgebern und Gewerkschaften verwaltet wird, rund 400 000 Franken für die Anschaffung eines Simulators für Baumaschinen beantragten, sagten unsere Vertreter: Warum ­beantragt ihr Geld aus einem Fonds, den ihr abschaffen wollt? Die Arbeitgeber waren perplex und haben geantwortet, dass sie sicher nicht ihren Fonds und ihren regionalen Vertrag abschaffen wollen. Und so haben wir realisiert, dass Sektionen des Baumeisterverbandes keine Ahnung hatten, was ihre Verhandlungsdelegation fordert.

Sind die Baumeister noch in anderen Punkten eingeknickt?
Ja, sie wollten auch den Artikel streichen, der garantiert, dass die Vertragsparteien die berufliche Weiterbildung fördern. Und sie wollten das Barzahlungsverbot für Löhne aufheben, was die Schwarzarbeit begünstigt hätte. Das haben sie zurückgenommen. Ansonsten erklärten sie jedoch, sie seien bei einzelnen Punkten ihres neuen Vertrags «verhandlungsbereit», aber nur unter der «Bedingung», dass wir alle anderen Verschlechterungen akzeptieren! Und: In der letzten Verhandlungsrunde haben sie eine absolut unverständliche Forderung nachgeschoben: Für ausgelernte Bauarbeiter sollen die Mindestlöhne nach Lehrabschluss fünf Jahre lang um bis zu 25 Prozent unterschritten werden dürfen! Nach einer dreijährigen Lehre wäre der Lohn dann tiefer als bei einem Hilfsarbeiter ohne jegliche Berufserfahrung. Wer glaubt, mit solchen Ideen junge Leute zu begeistern, hat einfach den Bezug zur Realität verloren.

Jetzt bleibt nur noch eine Verhandlungsrunde. Schaukeln Sie das Ding noch, oder ist der vertragslose Zustand schon fast sicher?
Das ist nicht, was wir wünschen. Wir wollen einen neuen Vertrag. Aber den bestehenden Vertrag kön­­­­nen und wollen wir nicht verlängern, weil wir Lösungen für die dringenden Probleme der Branche wollen und auch die Aufsichtsbehörde Seco verlangt, dass wir die Reisezeit so regeln, wie es das Arbeitsgesetz vorsieht. Die entscheidende Fra­­ge ist: Können wir in den kommenden Wochen endlich normale Verhandlungen führen?

Und was, wenn das nicht möglich ist?
In den kommenden Wochen finden in der Deutschschweiz und der Romandie Protesttage statt: Tausende von Bauarbeitern werden einen Tag den Pickel niederlegen und für ihre Rechte und Würde auf die Strasse gehen. Im Tessin haben schon am Montag Tausende Bauarbeiter protestiert. Die Empörung an der Basis ist enorm, mehr noch als in anderen Jahren und auch unter Leuten, die nicht in der Gewerkschaft sind. Wenn wir bis Ende Jahr keine Lösung finden, dann wir es nächstes Jahr einen landesweiten Branchenstreik geben. Wir tun alles dafür, eine Verhandlungslösung zu finden. Aber das hängt nicht nur von uns ab.


Nicht mit uns: In allen Landesteilen formieren sich die Büezer

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