Berg frei! Naturfreunde Schweiz feiern ihr 100-Jahr-Jubiläum
«Nicht nur wandern soll der Arbeiter!»

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Wandernd zum befreiten Menschen und zum ­Sozialismus – das war die Gründungs­idee der ­Schweizer Naturfreunde. ­Revolutionär ist die Bewegung nicht mehr, aber noch ­immer ­engagiert.

AUFTANKEN: Eine Gruppe der Schweizer Naturfreunde macht Rast auf einer Wiese, aufgenommen 1926. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

An Pfingsten 1945, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, pilgerten Hunderte Frauen und Männer aufs Rütli. Dort stimmten sie andächtig ein Lied an. Doch für einmal war es nicht der Schweizerpsalm, der über den Urnersee hallte. Sondern die Internationale, die Hymne der globalen Arbeiterbewegung. Auf der «heiligen Wiese» war das linke Lied wohl eine Premiere. Ganz und gar nicht hingegen für die singenden Schweizer Naturfreunde, die damals auf dem Rütli ein Jubiläum feierten. Natur-wer?

Tatsächlich ist die Bewegung der Naturfreunde weitgehend in Vergessenheit geraten. Auch und gerade bei Medienschaffenden. So berichtete keine grosse Zeitung über das 100-
Jahr-Jubiläum oder die prominent ­besuchte Zentenarfeier, die vor kurzem im Zürcher Volkshaus über die Bühne ging. Dabei gäbe es einiges zu erzählen.

Als Berge Privatbesitz waren

Zumal die Schweiz zu den Pionierländern der internationalen Bewegung gehört. Noch früher dran war bloss das damalige Österreich-Ungarn mit seiner Hauptstadt Wien, wo die Naturfreunde ihren Ursprung haben. 1895 taten sich dort ein Metallarbeiter, ein Lehrer, ein Schriftsetzer und ein Jusstudent zusammen. Die vier waren nicht nur Sozialisten, sondern teilten noch eine Überzeugung: Die Befreiung des Proletariats gelinge nur, wenn die Arbeiterschaft aufgeklärt, gebildet und auch physisch stark sei. Doch die Schufterei in den Fabriken sei dem nicht zuträglich, ebenso wenig die prekären Wohnverhältnisse in den urbanen Mietskasernen. Und erst recht nicht der Freizeitvertrieb in verrauchten Spelunken. Allein der Gang in die Natur weise den wahren Weg, so ihr Glaube.

In der «Arbeiter-Zeitung» gaben sie ein Inserat auf: «Naturfreunde werden zur Gründung einer touristischen Gruppe eingeladen», hiess es da bescheiden. Doch schon am ersten Ausflug nahmen 85 Frauen und Männer teil. Der «Touristenverein» war gegründet. Auch eine Vereinsparole bestimmten sie: «Berg frei!» lautet sie noch heute. Im Habsburgerreich war sie durchaus wörtlich gemeint. Denn viele Wälder und Bergtäler waren im Privatbesitz einiger Adliger, die dort ihrem Jagdhobby frönten, und dem gemeinen Volk versperrt. In der demokratischen Schweiz stellte sich dieses Problem weniger. Doch auch hier gab es Hürden: Zugreisen, Hotelübernachtungen oder Bergausrüstungen waren für die breite Masse unerschwinglich. Hier setzten die Naturfreunde an.

Von den Nazis verfolgt

ENGAGIERT: Christine Schnapp. (Foto: Naturfreunde Schweiz)

1905 entstand in Zürich die erste Schweizer Sektion. Angestossen hatte sie der ungarische Wandergeselle Ferdinand Bednarz. Ein umtriebiger Typ! Die Historikerin Beatrice Schumacher fand heraus, dass Bednarz innert 10 Jahren noch 12 weitere Schweizer Ortsgruppen initiierte. 1925 entstand der Landesverband. Ein zen­trales Ziel jeder Sektion war der Bau eines eigenen Hauses mit Massenschlag und Gemeinschaftsküche (siehe Box). In den geselligen Runden ums Hüttenfeuer debattierten die Naturfreundinnen und -freunde rege. Was mitunter in feurigen Appellen endete: «Nicht nur wandern soll der Arbeiter, er soll auch sehen lernen, was die Natur in so reichem Masse um ihn ausbreitet!» hiess es 1921. Aber auch Probleme des Bergsports waren Gesprächsthema, etwa bezüglich des Skifahrens. Schliesslich trugen die Naturfreunde viel zur Popularisierung dieses Elitensports bei – mit Gruppenausflügen, Lagern oder Skiverleih. Doch schon 1925 warnte das Mitgliederblatt vor der «kapitalistisch» anmutenden Rennkonkurrenz: Statt der kürzesten Laufzeit solle doch künftig die «stilvolle Anwendung» bewertet werden.

Auch Weltpolitik begleitete die Naturfreunde stets. Schliesslich verstand man sich als proletarische Kulturorganisation, konkret als dritte Säule neben Gewerkschaft und SP. Wobei die Mitgliedschaft allen offenstand, ausser den ganz Rechten. Kein Wunder: Nationalsozialisten und Austrofaschisten verfolgten die Naturfreunde bis aufs Blut. 1934 gelang es gerade noch, das internationale Büro von Wien nach Zürich zu schmuggeln. Ausgeschlossen, zumindest von Ämtern, wurden im Kalten Krieg auch Anhänger der Partei der Arbeit. Dies aus antikommunistischem Ressentiment, aber auch, weil in Stalins Sowjetunion Naturfreunde in Kerkern schmorten. Und heute?

Bedeutung nimmt wieder zu

«Sozialismus ist bei uns schon lange kein Thema mehr», sagt Co-Geschäftsleiterin Christine Schnapp. Doch noch immer förderten die rund 12 500 Schweizer Naturfreunde Solidarität, Toleranz und demokratische Werte, was klar auf das Erbe der Arbeiterbewegung zurückgehe. Die Bedeutung der Naturfreunde nehme dabei noch zu, ist Schnapp überzeugt. Dies etwa, weil Outdoor-Aktivitäten und Tourismus generell immer öfter Kontroversen auslösten. Da komme den Naturfreunden ihr Alleinstellungsmerkmal zugute: «Wir organisieren Freizeitaktivitäten in den Bergen, im Schnee oder auf dem Wasser, aber setzen uns gleichzeitig für eine intakte Umwelt ein.» Zudem sei das Mitmachen in einer Sektion gerade bei frisch Pensionierten eine begehrte Möglichkeit, sich sinnvoll einzubringen. Aber auch bei jungen Erwachsenen und Familien seien die Naturfreunde beliebt – «als Orte des Engagements, der Vernetzung und natürlich wegen der unschlagbar günstigen Übernachtungs- und Freizeitangebote». Die klassische Vereinskarriere mit jahrelanger Tätigkeit habe hingegen eher ausgedient. Heute brächten sich viele lieber punktuell ein. Viele Sektionen hätten sich gut daran angepasst, meint Schnapp. Und eines weiss sie genau: «Engagieren wollen sich die Leute nach wie vor!»

Die Herzstücke der Sektionen: Über 70 Naturfreunde-Häuser

Die über 100 Naturfreunde-Sektionen der Schweiz veranstalten jährlich rund 5000 Kurse, Feste oder Natursport-Aktivitäten. Ausgangspunkt ist oft eines der 73 Naturfreunde-Häuser, die auch für Externe günstig zu mieten sind. Das älteste Haus baute die Sektion Bern 1913 im Kiental. Das «Gorneren» (im Bild) steht noch heute im originalen Zustand und wird von Mai bis Oktober sogar bewirtet. Andere Sektionen betreiben nur an Wochenenden ein kleines Beizli – jede Sektion, wie sie will. Denn Autonomie wird bei den Naturfreunden bis heute grossgeschrieben.

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