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Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Ob Zoll-, Energie- oder Coronakrise: Wirtschaftsverbände und ihre Lobby spielen sich als Retter der Wirtschaft auf. Immer mit dem gleichen Reflex: mehr arbeiten (lassen), weniger Regulierung. Sonst drohe ein Firmen-Exodus, eine massive Wohlstandsreduktion, wenn nicht gar der Untergang der Schweiz. Des Teufels sind da ­natürlich alle gewerkschaftlichen Forderungen.

Swiss made

Dabei sind gewerkschaftliche ­Errungenschaften ein Qualitätsmerkmal des Schweizer Wirtschaftsstandortes.

Angela Hao ist Schweiz-Korrespondentin und Chefin des Europabüros der chinesischen Onlinezeitung «Sina Finance», eines bedeutenden Finanzinformationsdienstes. Im «Bund» sagte sie:

Die Schweizer Arbeitseffizienz ist bemerkenswert. Es gibt keine Verherrlichung von Überarbeitung wie in der ‹996-Kultur› in China, einem Kürzel für Arbeitstage von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, was bei sechs Tagen einer Arbeitswoche von 72 Stunden entspricht. Beruflich schätze ich die Zusammenarbeit mit Schweizer Unternehmen sehr. Ihre Fachleute sind zuverlässig und vertrauenswürdig.

Made by Gewerkschaften

Dass in der Schweiz die 72-Stunden-Woche nicht die Norm ist und die Fachleute zuverlässig sind, hat viel mit den Gewerkschaften zu tun. Die Gewerkschaften leisten Entscheidendes für die Schweizer Wirtschaft und für den Wohlstand, auch wenn dieser nach wie vor ­ungleich verteilt ist. Ein paar Beispiele:

  • Kaufkraft: Gewerkschaften tragen zu höheren Löhnen bei. Das stärkt wiederum die Kaufkraft – und das Wirtschaftswachstum.
  • Soziale Stabilität: Gewerkschaften tragen dazu bei, die Lohnschere zu verkleinern. Weniger Ungleichheit wiederum hilft, soziale Spannungen zu entschärften – siehe Frankreich
  • Gesundheit: Geregelte Wochenarbeitsstunden, bezahlte Ferien, bezahlter Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub: all diese von Gewerkschaften und progressiven Kreisen hart erkämpften Fortschritte tragen zur physischen und psychischen Gesundheit der Arbeitnehmenden bei – was wiederum zu mehr Arbeitseffizienz, besserer Lebensqualität und auch zu der von Frau Hao geschätzten Zuverlässigkeit führt.
  • Ausbildung: In vielen Branchen fördern Gewerkschaften die Weiterbildungsmöglichkeiten. Das bewirkt wiederum, dass die Schweiz gut ausgebildete Fachleute hat, was ­zentral ist für die Schweizer Firmen, ihren ­Umsatz und ihren Profit.
  • Sozialstaat: Gewerkschaften waren massgeblich beteiligt an der Einführung und Weiterentwicklung der AHV, der Arbeitslosenversicherung, der Mutterschaftsversicherung usw. Was wiederum die wirtschaftliche Entwicklung – und ja, auch die Zuverlässigkeit – fördert.
  • Wirtschaftliche Resilienz in Krisenzeiten: Während Krisen tragen die Gewerkschaften durch pragmatische Lösungen zur Stabilisierung der Wirtschaft bei. Etwa durch Kurzarbeit, Kündigungsschutz, Härtefallfonds.

Made by LMV

Umso erstaunlicher, dass die Baumeister in den Verhandlungen um den neuen Landesmantelvertrag derart auf Abriss setzen. Denn die Bauleute bauen im wahrsten Sinne des Wortes den Wohlstand der Schweiz. Dass sie dies unter würdigen Bedingungen tun können, dafür müssen die Gewerkschaften immer wieder kämpfen. Doch die Baumeister wollen im LMV keinen Stein auf dem anderen lassen. Mindestens 20 Seiten des Vertrages wollen sie ersatzlos streichen. Doch die Bauleute werden diesem Streichkonzert nicht applaudieren. Und die Meister täten gut daran zu überlegen, worauf ihr Wohlstand beruht.

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