Warum «Multikulti» in der Gewerkschaft so wichtig ist
Als Zuwanderer Teil des «Wir» wurden

Eine historische Leistung der Unia hat die Schweiz radikal zum Besseren ­verändert: ­die ­Integration der eingewanderten ­Arbeiterinnen und Arbeiter.

20 000 MENSCHEN AUF DEM BUNDESPLATZ: Demonstration im Jahr 1990 der Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) gegen das Saisonnierstatut. (Foto: Keystone)

Daniel muss dringend operiert werden. In Genf gebe es noch ein funktionierendes Spital, hat Marianne gehört. Von Sumiswald 189 Kilometer weg, aber Daniel geht es schlecht. Die A 1 ist vielerorts gesperrt, sie wird nicht mehr geflickt, mangels Büezern. Marianne fährt an geschlossenen Fabriken und halbfertigen Häusern vorbei. Am Strassenrand verkauft jemand Erdbeeren, für 49 Franken das Körbli. Kurz hinter Freiburg …

Eine blöde Geschichte? Hört man das hasserfüllte, oft rassistische Dauergerede der SVP, vieler Bürgerlicher und der rechten Medien, mag man sich wünschen, eines Morgens aufzuwachen, und die vielen Kolleginnen und Kollegen ohne Schweizer Pass wären an einen besseren Ort verschwunden. Einfach so, um die Verhältnisse klarzustellen. 45 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sind im Ausland geboren, gar zwei Drittel der Bauleute. Die Schweizerinnen und Schweizer wären sich selbst überlassen in einem wirtschaftlich, aber auch menschlich und kulturell verelendeten Landstrich am Alpenrand.

Migration, Wanderung ist ein Menschenrecht. Sie hat unsere Gattung bestimmt, seit wir aus den Tiefen Afrikas aufgebrochen sind, um den Globus zu besiedeln. Und uns dabei immer wieder neu sortiert haben: So sind etwa zwischen 1850 und 1914 mehr als 300 000 vor der Armut aus der Schweiz geflohen, fast jede und jeder sechste, um anderswo eine Existenz zu bauen.

Die faschistische Mechanik

Nationalisten lügen das weg. Denn die Spaltung der Arbeitenden dient dem Kapital. Es spielt Frauen gegen Männer aus, wovon Lohnunterschiede und üble Begriffe wie «Zweitverdienerin» zeugen. Es hetzt Inländer gegen Ausländer. Der Trick der Rechten ist dabei immer derselbe: Sie lenken die Wut der Dominierten, die unter den Zwängen des Kapitalismus leiden, von den Herrschenden ab auf jene, denen es noch schlechter geht – und die zum Beispiel kein Stimmrecht haben. Das ist die faschistische Mechanik, die überall in Europa und in den USA dieser Tage die Politik bestimmt.

Die Gewerkschaftsbewegung hat einiges ­erreicht, die Verteidigung der AHV, die Frühpensionierung auf dem Bau, Mindestlöhne in der ­Industrie, Fortschritte bei der Gleichstellung, bessere Arbeitsbedingungen in den Dienstleistungen. Sie hat das Streikrecht zurückgewonnen und die Fähigkeit, mit Referenden die schlimmsten Zumutungen des Kapitals abzuwenden. Doch künftige Historiker werden erkennen: Die grösste Leistung der Gewerkschaften war die Integration der ausländischen Kolleginnen und Kollegen. Weit über die Arbeitswelt hinaus hat sie die Schweiz zu einer besseren Gesellschaft gemacht. Eine zivilisatorische Tat.

Unsere Waffe: Solidarität

Der ging allerdings ein langes, hartes Ringen ­voraus. 1970, als die extreme Rechte 350 000 Arbeitende aus dem Land werfen wollte («Schwarzenbach-Initiative»), stimmte fast jeder zweite Mann dafür. Die Frauen hatten noch kein Stimmrecht. Fremdenhass grassierte. Der SGB hatte die Nein-Parole ausgegeben, doch viele Arbeitende und ihre Gewerkschaften verstanden die Migrantinnen und Migranten als Konkurrenz, die abgewehrt und (manchmal handgreiflich) diskriminiert werden sollte. «Tschinggen raus!» tönte es, und an Beizen-Türen hingen Schilder wie «Ausländer unerwünscht». In den Smuv-Betriebskommissionen oder in den SEV-Gremien gab es noch in den 1980er Jahren kaum Secondos und Secondas. Absurd, denn die gewerkschaftliche Basis war längst viel bunter.

Die Wende kam mit dem Kampf gegen das menschenfeindliche Saisonnierstatut, gegen die Apartheid- und Barackenschweiz. Nach diversen Niederlagen (etwa der Ablehnung der «Mitenand»-Initiative 1981) gelang es fortschrittlichen Köpfen der Gewerkschaften, zwei Erkenntnisse durchzusetzen: Die Zugewanderten würden auf Dauer bleiben, sie waren längst Teil des «Wir». Und nicht Diskriminierung schützt die «einheimischen» Arbeitenden – im Gegenteil: Erst wenn alle dieselben Rechte haben, können sie die Arbeitgeber nicht mehr gegeneinander ausspielen. Solidarität schlägt dem Kapital die wichtigste Waffe aus der Hand. 20 000 folgten im September 1990 dem Aufruf der Gewerkschaft GBH zu einer Demo gegen das Saisonnierstatut in Bern. Nach seiner Abschaffung stiegen die Löhne aller Arbeitenden.

Künftige Kämpfe

Im Rückblick war diese fundamentale Wende in den Gewerkschaften die Triebkraft für den Zusammenschluss der Verbände zur Unia vor 20 Jahren. Ihren Kampf für die Solidarität der Arbeitenden gegen die rechten Knechte des Kapitals muss die grösste Migrantinnenorganisation des Landes seither immer wieder von neuem gewinnen.


Kapitalismus In der Krise gefährlich


Kapitalismus und Demokratie gehen nicht zusammen. Denn in Krisen stützt sich das Kapital regelmässig auf faschistische «Lösungen». Seit der Finanz­krise 2007/2008 kommt die ­kapitalistische Akkumulation nicht mehr in die Gänge, und überall legen die Rechtsextremen stark zu – vor allem in der «bürgerlichen Mitte». Als Vorwand dient ihnen die «Immigra­tion». Regierungen reden von ­geschlossenen Grenzen, «Deportation» und «Remigration». Das rückt die Gewerkschaften ins Zentrum des politischen ­Ringens um die Grundrechte ­aller, um die Demokratie.

Übrigens:

Über 60 Prozent der Unia-Mitglieder haben keinen Schweizer Pass, und über die Hälfte der Unia-Mitarbeitenden haben einen Migrationshintergrund. 

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