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20 Jahre stark: Die Unia ist heute ein Machtfaktor in der Schweizer Politik

Menschen prägen Geschichten und Geschichte. Wer etwas verstehen will, muss ihren Spuren folgen. Auch jenen der kürzlich verstorbenen Gewerkschafterin Christiane Brunner.

EINE SCHWESTERN, GANZ IM GEGENTEIL: Die beiden SP-Bundesratskandidatinnen Ruth Dreifuss (links) und Christiane Brunner tickten ganz anders. (Foto: Keystone)

Ich lese mit steigendem Erstaunen all die Berichte, die nach ihrem Tod über Christiane ­Brunner und ihre Nichtwahl in den Bundesrat erschienen sind. Vieles saugen sich die Autorinnen und Autoren aus den eigenen Fingern.

Wir erinnern uns: Anstelle der SP-Frau und Gewerkschafterin Christiane Brunner wählten die Bürgerlichen im März 1993 den SP-Mann Francis Matthey. Das war zehn Jahre nachdem die Bürgerlichen den SP-Bundesratskandidaten Otto Stich der SP-Bundesratskandidatin Lilian Uchtenhagen vorgezogen hatten. Der damals noch intakte Berner SP-Landsturm hatte danach an einem ausserordentlichen Parteitag verhindert, dass die SP aus Protest den Austritt aus dem Bundesrat beschloss.

Nach der Nichtwahl von Brunner gab es schon zehn Jahrgänge weniger von diesem Landsturm. Und die SP hatte sich in ihrer Zusammensetzung ver­ändert. Dazu kam der alles entscheidende Druck der Strasse. Deshalb war damals klar: Wenn Matthey die Wahl angenommen hätte, was der durchaus erwog, wäre die SP aus dem Bundesrat ausgetreten. Eine interessante Perspektive, an die sich heute niemand mehr erinnern will. Warum diese Verengung des Blicks? Verstehe ich nicht!
Am Küchentisch seiner bescheidenen Wohnung teilte uns Matthey mit, er sei bereit, die Wahl im Interesse der Partei abzulehnen, unter der Bedingung, dass die Partei neu zwei Kandidatinnen ins Rennen schicke. Das konnten André Daguet als damaliger SP-Generalsekretär und ich als SP-Präsident nicht versprechen. Obwohl hinter den Kulissen die damalige SP-Nationalrätin Gret Haller schon mächtig für eine Bundesratskandidatin Ruth Dreifuss Stimmung machte.

Danach trafen Christiane Brunner, Ruth Dreifuss, André Daguet und ich uns im schönen Landhaus des Bruders von Dreifuss. Wir legten in aller Offenheit die Ausgangslage dar: Dreifuss und Brunner unternahmen einen grossen Spaziergang und teilten uns danach mit, dass sie beide kandidieren würden.

Damals war die SP noch demokratischer als heute. Der Parteivorstand in Zürich diskutierte die Frage: Was tun? Die zu früh verstorbene SP-National­rätin Francoise Pitteloud – eine ehemalige Trotzkistin – stellte den entscheidenden Antrag: Eine weitere Kandidatin müsse erstens eine Frau sein, zweitens eine Romande und drittens eine Gewerkschafterin. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschob Dreifuss jetzt ihre Papiere von Bern nach Genf.

Minirock

Dreifuss und Brunner waren in jeder Beziehung keine Schwestern: Brunner kam aus der Arbeiterklasse, aus dem Prekariat; Dreifuss aus dem gepflegten Bürgertum. Das Outfit von Christiane Brunner triggerte nicht nur die bürgerlichen Männer, sondern auch linke Männer wie SP-Mann Jean Ziegler, und sie traten eine unsägliche Schlammschlacht gegen die Bundesratskandidatin los. Diese stellte klar, falls man sie ins VBS abschieben würde, werde sie jeden Tag im Minirock zur Arbeit erscheinen. Brunner trat frecher auf als Dreifuss, war politisch allerdings beweglicher und biegsamer als diese. Doch Dreifuss entsprach äusserlich dem gewünschten patriarchalen Frauenbild.

Brunner wurde zum zweiten Mal nicht gewählt, dafür aber Dreifuss. Und Brunner machte sich daran, Gewerkschaftsgeschichte zu schreiben. Zwischendurch half sie der SP, die Trümmer der Ära Ursula Koch etwas wegzuräumen. Zusammen mit dem Fraktionspräsidenten Franco Cavalli machte sie die SP undemokratischer, weniger basisdemokratisch. Verstehe, wer kann!

Der Durchbruch

Später kam es schrittweise zur Fusion zwischen den beiden grössten Einzel­gewerkschaften Smuv und GBI. Den Smuv präsidierte (bis 2000) Christiane Brunner und die GBI der Alt-Trotzkist Vasco Pedrina. Bis zuletzt zögerte Brunner, die Fusion zu wagen. Letztlich überzeugten die beiden damaligen Smuv-Schwergewichte Renzo Ambrosetti und André Daguet ihre zögerliche Präsidentin, den Schritt zu machen. Die Unia entstand. Und siehe da: Die zwei traditionell unterschiedlichen Gewerkschaftskulturen vertrugen sich recht gut. Dies nicht zuletzt, weil sich die organisierte Arbeiterklasse verändert hatte. So wie dies der Zürcher Filme­macher Samir in seinem jüngsten Film «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» auf den Punkt bringt.

Ein Rätsel

Menschen prägen Geschichten und Geschichte. Wer etwas verstehen will, muss ihren Spuren folgen. Die Unia ist heute ein Machtfaktor in der Schweizer Politik und Arbeitswelt. Zum ersten Mal können die Gewerkschaften nicht nur mit Referenden den Sozialabbau von rechts verhindern, sondern die Zukunft mitgestalten, wie das etwa der historische Durchbruch mit der 13. AHV-Rente gezeigt hat.

Oder wie es die Idee der flankierenden Massnahmen zeigt: Entwickelt wurde sie vor 34 Jahren von einigen Linken aus SP und Gewerkschaften. Und sie scheint heute langsam, aber sicher an Boden zu gewinnen. Für mich ist es ein Rätsel, warum SP und Gewerkschaften für die Zustimmung zu den Bilateralen III derzeit nicht einen Mindestlohn von 25 Franken verlangen. Aber vielleicht bin ich auch etwas zu alt, um noch alles zu verstehen.

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