Die Schweiz führte sie als letztes europäisches Land ein
20 Jahre Mutterschaftsversicherung: Geschichte einer Zangengeburt

Das trist ­rot blinkende Schlusslicht ist das ­Symbolbild der Schweizer Gleichstellungspolitik. Bei der Mutterschafts­versicherung dauerte es 86 Jahre vom pur lauteren Nichts zur Minimallösung. Heuer wird diese 20 Jahre alt. Und angegriffen.

DIE KAMPAGNE, DIE DEN ERFOLG BRACHTE: 2004 hat die Stimmbevölkerung den Mutterschaftsurlaub angenommen. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

Dabei fing alles früh fortschrittlich an. Das Glarner Fabrikgesetz von 1864 war eine europäische Pioniertat. Auch im Hinblick auf arbeitende Frauen. Das Gesetz führte ein sechswöchiges Beschäftigungsverbot für Frauen nach der Niederkunft ein. Allerdings ohne Lohnfortzahlung oder andere Entschädigung. So wurde, was als Schutz gedacht war, zur existenziellen Bedrohung. Denn ohne Lohnersatz waren viele der schlecht entlöhnten und in prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebenden Fabrikarbeiterinnen gezwungen, das Gesetz zu umgehen und heimlich andere Arbeit anzunehmen.

Ein Freisinniger sieht das Problem

Der freisinnige Zürcher Nationalrat Ludwig Forrer erkannte das Problem. Seine «Lex Forrer» von 1899 hätte Abhilfe schaffen sollen. Das Kranken- und Unfallversicherungs­gesetz sah erstmals ein Wöchnerinnengeld vor – 60 Prozent des anrechenbaren Tagesverdiensts für versicherte Frauen. Doch die stimmberechtigten Männer lehnten die Vorlage 1900 ab. Der Mutterschutz ohne finan­zielle Absiche­rung blieb ein Bumerang für die be­troffenen Frauen. Forrer zog sich vorerst frustriert aus der Politik zurück – und kehr­­te dann als Bun­desrat zurück.

HATTE DAS PROBLEM ERKANNT: Ludwig Forrer. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

1904 reichte der Bund Schweizerischer Frauenvereine mit Unterstützung verschie­dener Arbeiterinnenvereine eine Petition ein. Sie forderten Lohnersatz für die Dauer ­des Arbeitsverbots. Wegen des Verdienstausfalls würden sich viele Frauen weigern, die ­Fabrik zu verlassen, oder nähmen heimlich eine ­andere Arbeit an, argumentierten sie. Die Petition blieb folgenlos. Das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz von 1918 brachte immerhin Pflegeleistungen für versicherte Wöch­­nerinnen. Doch nur wenige Frauen wa­­­ren überhaupt krankenversichert.

Die Krisenjahre 1921/22 setzten dem ­sozialpolitischen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg ein abruptes Ende. Das Parlament lehnte 1921 den Beitritt zum Abkommen der  Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Mutterschaftsschutz ab – «zu umfassend, zu teuer». In den 1920er Jahren stand die AHV im Vordergrund, die Wirtschafts­depression der 1930er lähmte jede Initiative. Die Mutterschaftsversicherung blieb Dauerforderung der Frauenorganisationen, der Gewerkschaften und der SP.

Konservative verrechnen sich

Doch erst dank katholisch-konservativen Kreisen kam es zu einem Durchbruch. Auch wenn diese das gar nicht beabsichtigten und der Fortschritt lange nur auf dem Papier stand und von der Umsetzung ferngehalten wurde. Und so kam es dazu:

Nach Rückzug der katholisch-konservativen Initiative «Für die Familie» nahmen die Schweizer Männer den Gegenvorschlag mit 76 Prozent an. Dieser schrieb die Mutterschaftsversicherung in die Bundesverfassung.

Die Absicht dahinter war allerdings nicht die Gleichberechtigung, sondern die Festschreibung des reaktionären Dreiklangs «Kinder, Küche, Kirche». Bei allem, was die Frauen darüber hinaus begehrten, sahen die bürgerlichen Männer das vierte K an die Familienwohnungstür klopfen, das böse K des Kommunismus. Dass ausgerechnet dank den Konservativen die Mutterschaftsversicherung Verfassungsrang erhielt, ist eine Ironie deren Geschichte. Aber längst nicht die letzte. Immerhin dauerte es auch noch 60 Jahre, bis der Verfassung nachgelebt wurde.

Die steinigen Folgejahre

1946 ging ein erster Vorentwurf in die Vernehmlassung. Eine eigenständige Mutterschaftsversicherung mit Solidaritätskomponenten war vorgesehen. Doch der Vorentwurf wurde «zugunsten einer späteren Revision der Krankenversicherung zurückgestellt». Eine beschönigende Beschreibung für die ewige Verschiebung.

1952 weigerte sich die Schweiz erneut, das überarbeitete ILO-Übereinkommen zu unterzeichnen – zwölf Wochen Mutterschaftsurlaub waren zu viel verlangt: «zu ­umfassend, zu teuer». 1965 wurde die Leistungsdauer in der freiwilligen Taggeldver­sicherung immerhin von sechs auf zehn Wochen verlängert. Für die wenigen, die sich das leisten konnten.

Die feministische Offensive

Ende der 1970er Jahre gingen Frauenorga­nisationen, linke Parteien und Gewerkschaften wieder in die Offensive. Die damals frisch gegründete Organisation für die Sache der Frau (Ofra) lancierte 1978 eine Volks­­initiative: 16 Wochen Mutterschaftsurlaub zu 100 Prozent sowie neun Monate Elternurlaub. Ein Vorschlag, der auch heute noch visionär wäre.

CHANCENLOS: Die fortschrittliche Initiative für einen Elternurlaub. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

1984 erzielte die Initiative das zehntschlechteste Abstimmungsresultat der Schweizer Geschichte: 15,8 Prozent Ja-Stimmen. Kein einziger Kanton stimmte zu: «zu umfassend, zu teuer». Aber vor allem ging es den Gegnern und Gegnerinnen um etwas anderes. Die damalige CVP-Nationalrätin Eva Segmüller formulierte es eben­­so eisig wie offen:

Die familienpolitischen Bestrebungen der CVP gehen nicht dahin, ausgerechnet die Erwerbstätigkeit von Müttern kleiner Kinder zu fördern.

1987 scheiterte eine weitere Vorlage mit 71 Prozent Nein-Stimmen. Die ideologische Front gegen erwerbstätige Mütter schien unüberwindbar.

Dreifuss mischt die Karten neu

Der Frauenstreik von 1991 veränderte das politische Klima. Mit Ruth Dreifuss, der ersten Gewerkschafterin und Sozialdemokratin im Bundesrat, erhielt die Mutterschaftsversicherung eine mächtige Verfechterin. 1994 eröffnete sie die Vernehmlassung zu einem neuen Vorentwurf: 16 Wochen Mutterschaftsurlaub, 100 Prozent Lohnersatz bis 97’200 Franken Jahreseinkommen – finanziert über 0,4 Lohnprozente.

Die Reaktionen der Rechten waren vorhersagbar: «zu umfassend, zu teuer». 1997 lancierte der Bundesrat eine abgeschwächte Vorlage: Erwerbsersatz von 80 Prozent während 14 Wochen sowie eine einmalige Grundleistung für Mütter in bescheidenen Verhältnissen. 1998 stimmte das Parlament zu. Im Juni 1999 sagten 61,6 Prozent der Stimmenden Nein. Wieder eine Niederlage. Doch diesmal war das Echo anders. Die Reaktionen zeigten, dass das Anliegen inzwischen breit abgestützt war. Vor allem in der Westschweiz bröckelte die ideologische Front.

Ein Freisinniger rechnet nach

Und dann kommt die zweite grosse Ironie ­der Geschichte: Gewerbeverbandschef ­Pierre Triponez – ein Freisinniger wie Forrer – realisiert, dass eine staatliche Lösung die Arbeit­geber entlasten kann. Statt dass jeder Betrieb individuell für schwangere Angestellte aufkommen muss, würde eine Versicherungs­lösung die Kosten auf alle verteilen. Triponez schlägt vor, den Mutterschaftsurlaub über die bestehende Erwerbsersatzordnung zu finanzieren. Es kommt zur Allianz zwischen dem Gewerbler und drei fortschrittlichen Nationalrätinnen:

Jacqueline Fehr (SP), Ursula Haller (SVP) und Thérèse Meyer-Kaelin (CVP) erarbeiten 2001 einen parteiübergreifenden Kompromiss.

Noch einmal ergreift die SVP das Referendum. Doch diesmal vergeblich. 26. September 2004: 55,5 Prozent Ja-Stimmen. Nach 60 Jahren wird der Verfassungsauftrag endlich umgesetzt.

Am 1. Juli 2005 tritt die Mutterschaftsversicherung in Kraft. Es ist eine Minimal­lösung, erkämpft mit maximalem Aufwand: 14 Wochen, 80 Prozent Lohnersatz, nur für erwerbstätige Frauen. Kein Elternurlaub, keine Leistungen für Nichterwerbstätige. Aber immerhin: Die Schweiz war nicht mehr das letzte Land Europas ohne Mutterschaftsversicherung.

Nichts ist selbstverständlich

Heute steht die Schweiz im europäischen Vergleich immer noch schlecht da. Frankreich gewährt 16 Wochen, Deutschland bis zu einem Jahr bezahlte Elternzeit, Schweden sogar 480 Tage. Die Schweiz blieb bei ­ihrer Minimallösung. Immerhin: 2021 kam der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub dazu. Nach jahrzehntelangem Kampf für eine Selbstverständlichkeit. Vorher bekam ein Vater bei der Geburt seines Kindes gesetzlich gleich viel Urlaub wie beim Zügeln: ­einen Tag.

FORTSCHRITT À LA SCHWEIZ: Väter haben nun 2 Wochen Vaterschaftsurlaub. (Foto: pd)

Dabei liegen konkrete Vorstösse auf dem Tisch: 36 Wochen Elternzeit, verteilt auf Mutter und Vater. Investitionen in flächendeckende, qualitativ hochwertige und bezahlbare Kitas. Modelle, wie sie etwa in Is­­land, Schweden oder Portugal längst Realität sind. Doch bei der rechten Mehrheit im Parlament heisst es immer noch: «zu um­fassend, zu teuer».

Vorwärts in die Vergangenheit

Von der «göttlichen Ordnung» redet zwar ­öffentlich kaum mehr einer, dafür warnen junge Freisinnige vor einem «Nannystaat statt Bürgerstaat», also vor der völligen Bevormundung durch «den Staat». Und SVPler sehen «Gendersozialismus» am Werk. Arbeitgeberverbände warnen – wie seit Jahrzehnten – vor einer flächendeckenden Konkurswelle, und be­­­sonders Schlaue orakeln: «Mehr Elternzeit würde nur zu mehr Teilzeit und weniger Wohlstand führen.» Und die rechte Mehrheit in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats beschloss unlängst, dass statt einer brauchbaren Elternzeit doch gefälligst die Frauen früher wieder ar­beiten gehen sollen, wenn Väter unbedingt länger als zwei Wochen beim Neugeborenen bleiben wollen. 60 Jahre dauerte es vom Verfassungsgrundsatz zur Mutterschaftsversicherung bis zur Umsetzung. 20 Jahre ist sie in Kraft. Und wird bereits wieder von rechts angegriffen.

Das trist rot blinkende Schlusslicht bleibt das Symbolbild der Schweizer Gleichstellungspolitik.

Die Chronologie

1877: Erstes eidgenössisches Fabrikgesetz
Das erste eidgenössische Fa­brikgesetz erlässt ein Arbeits­verbot für Schwangere und Wöchnerinnen von insgesamt 8 Wochen (mindestens 6 nach der Geburt). Ein Lohn­ersatz ist aber nicht vorgesehen.

1899: Lex Forrer
Das Parlament verabschiedet am 5. Oktober die «Lex Forrer» (Bundesgesetz betreffend die Kranken- und Unfallversicherung mit Einschluss der Militärversicherung). Die Vorlage sieht für Schwangere und Wöchnerinnen neben dem Schutz für den Krankheitsfall (Pflegeleistungen und ein Krankentaggeld in der Höhe von 60 Prozent des anrechenbaren Tagesverdiensts) den Anspruch auf ein Wöchnerinnengeld vor. Der Versicherungsschutz ist für die Arbeitnehmerinnen bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze obligatorisch.

1900: Männer lehnen ab
Die stimmberechtigten Schweizer (Männer) lehnen die «Lex Forrer» am 20. Mai in einer Referendums­abstimmung ab.

1904: Petition eingereicht
Der Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF), mit Unterstützung verschiedener Arbeiterinnenvereine, reicht eine Petition für eine Mutterschaftsversicherung ein. Die Frauenorganisa­tionen verlangen vom Bundesrat unter anderem Lohnersatz für die Dauer des Arbeitsverbots bei Mutterschaft. Wegen des Verdienstausfalls, argumentieren sie, würden sich viele Frauen weigern, die Fabrik zu verlassen, oder nähmen heimlich eine andere Arbeit an.

1912/18: KUVG tritt in Kraft
Das eidgenössische Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG), das 1912 in einer Volksabstimmung angenommen wurde, tritt am 1. April 1918 in Kraft. Es überlässt ein all­­fälliges Krankenversicherungs­obligatorium den Kantonen ­und ­Gemeinden. Artikel 14 stellt das Wochenbett einer versicherten Krankheit gleich. Jede ­versicherte Frau hat damit Anspruch auf mindestens 6 Wochen Pflegeleistungen nach der Geburt.

1945: In der Bundesverfassung verankert
Der Auftrag zur Schaffung einer Mutterschaftsversicherung wird in der Bundes­verfassung verankert. Nach dem Rückzug der 1941 von den Katholisch-Konservativen lancierten Volksinitiative «Für die Familie» wird der bundesrätliche Gegenvorschlag zu einem Familienschutzartikel mit 76 Prozent ­Ja-Stimmen angenommen.

1974: Abstimmung «Für eine soziale Krankenver­sicherung» abgelehnt
Das von der SP und vom Gewerkschaftsbund eingereichte Volksbegehren «Für eine soziale Krankenver­sicherung» wird verworfen. Inhalt: allgemeines Ver­sicherungsobligatorium, ­volle Pflegeleistungen bei Mutterschaft und während des Mutterschaftsurlaubs ein Taggeld von mindestens 80 Prozent des bisherigen Lohns.

1984: Nein zur initiative «Für einen besseren Schutz der Mutterschaft»
Am 2. Dezember wird die Volksinitia­tive «Für einen besseren Schutz der Mutterschaft» mit 84 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Der geforderte Elternurlaub von 9 Monaten dürfte ein ­wichtiger Grund für die Ablehnung gewesen sein.

1987: Teilrevision ­abgelehnt
Am 6. Dezember wird die Teilrevision des Kranken- und Mutterschaftsversicherungsgesetzes (KMVG) in ­einer Referendumsabstimmung mit 71 Prozent Nein-Stimmen vom Volk abgelehnt. Bekämpft wurde vor allem das Taggeld für nicht­erwerbstätige Mütter und der verlängerte Kündigungsschutz.

1999: Mutterschaftsversicherung abgelehnt
In einer Abstimmung wird die Mutterschaftsversicherung mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 61,6 Prozent abgelehnt.

2004: Der Durchbruch
Das Stimmvolk nimmt den von Gewerblern und Feministinnen angestossenen Kompromiss an. Mit 55,5 Pro­­zent Ja-Stimmen.

2020: Vaterschaftsurlaub
Bis hierhin hatten Väter bei der Geburt eines Kindes gleich lang frei wie fürs Zügeln: 1 Tag. Jetzt sagt das Volk Ja zu 2 Wochen Vaterschaftsurlaub.

2025: Endlich Elternzeit?
Die SGB-Frauen verabschiedeten bereits 2021 eine Resolu­tion für 24 Wochen Urlaub je ­Elternteil. Seit April sammelt eine breite Allianz Unterschriften für die Familienzeit-Initiative und 18 Wochen Elternzeit je ­Elternteil: familien-zeit.ch.

Was läuft am 14. Juni?

Der diesjährige Frauenstreik steht unter dem Motto «Kein Schritt zurück – gemeinsam für Gleichstellung!»

In 25 Städten und Gemeinden sind an diesem Samstag, 14. Juni, Kundgebungen und Demonstrationen für mehr Gleichstellung geplant.

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