«Keine 10-Millionen-Schweiz!»-Initiative entwürdigt Menschen
Die SVP greift ­unsere Löhne frontal an

Die SVP lanciert seit Jahren die gleiche Initiative unter anderen Titeln. Aktuell ist als «Nachhaltigkeitsinitiative» verpackt, was nur eines will: zurück zum menschenverachtenden Saisonnierstatut, zu tieferen Löhnen für (fast) alle und zu noch mehr Profit für die Unternehmen.

HELLEBARDE STATT HIRN: SVP-Präsident Marcel Dettling glaubt, Kontingente seien ein Zaubermittel. (Foto: Keystone)

Wenn Rechte, Rechtsaussen und jene, die sich schon längst im faschistischen Sumpf suhlen, von «Kontingenten» reden, tönt es, als handle es sich dabei um einen Zaubertrank, der jenen der «Asterix»-Gallier als schwaches Süppchen erscheinen lässt. Angeblich «steuern» Kontingente die Zuwanderung, «schützen Schweizer Löhne», machen die Mieten billiger, lösen die Staus auf Autobahnen und am Feierabend auf, sorgen für freie Sitzplätze im ÖV und dafür, dass Arbeitslose auch ab 58 sofort wieder eine Stelle finden. Wahrscheinlich lösen diese Kontingente – in Spraydosen abgefüllt – auch eingerostete Schlösser, einge­branntes Bratfett und alte Tapeten. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so brandgefährlich menschenverachtend und lohndrückend wäre.

Untauglich …

Die Wahrheit ist: Kontingente lösen keines der angeblichen und tatsächlichen Probleme. Aber schaffen unzählige neue. Die Fakten sind erdrückend:

Das vielgepriesene Kontingentsystem hat die Einwanderung nie wirksam begrenzt. Niemals!

Die Kontingente wurden stets der Nachfrage der Arbeitgeber angepasst, eine Begrenzung der Zuwanderung gab es nicht. Und wo die offiziellen Kontingente nicht ausreichten, blühte die Schwarzarbeit. Schätzungen gehen von 120 000 bis 180 000 Schwarzarbeitenden allein im Jahr 1990 aus. Was das System ­jedoch perfekt leistete: Es lieferte den Schweizer Unternehmern eine quasi rechtlose moder­ne Arbeitssklaverei.

… und unmenschlich

Das Saisonnierstatut ist ein Schandfleck in der Schweizer Geschichte. Es galt zwischen 1934 und 2002. Wortlaut und Zahlen wurden zwar ­einige Male angepasst, doch das Ziel blieb immer das gleiche: ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter zu einer rechtlich kaum geschützten «Manövriermasse der Wirtschaft» zu machen. Kurz: Das Saisonnierstatut war ein zynisches Instrument der Arbeitsmarktpolitik, das Ausbeutung systematisch ermöglichte. Es fusste auf drei Säulen der Diskriminierung:

  • Die Bewilligung war auf die Dauer einer Saison, höchstens aber auf neun Monate beschränkt. Danach mussten die Arbeitnehmenden die Schweiz für mindestens drei Monate verlassen.
  • Den Saisonniers war der Stellen- und ­Ortswechsel grundsätzlich untersagt.
  • Der Familiennachzug war verboten.

Die ersten beiden Säulen sorgten dafür, dass Saisonniers für Hungerlöhne schuften mussten – 14 Prozent unter dem Niveau der Löhne der Einheimischen – und so unfreiwillig den A­rbeitgebern ermöglichten, die Löhne aller zu drücken. Die dritte Säule war dafür verantwortlich, dass Familien auseinandergerissen wurden und über die Zeit mindestens 50 000 migrantische Kindern in Verstecken leben mussten.

Der Genfer Migrationshistoriker Toni ­Ricciardi kommt in einer ausführlichen Studie zum Schluss, dass eine halbe Million Minderjährige von den Trennungen betroffen waren, die das Saisonnierstatut mit sich brachte. In ihrer Heimat lebten die Kinder oft bei den Grosseltern oder in Heimen.

Anfangs teilten Schweizer Gewerkschaften leider die fremdenpolitische Logik des Saison­nierstatuts – in den 1960er-Jahren forderten sie teilweise sogar Kontingente gegen «Überfremdung». Doch mit der zunehmenden Organisierung migrantischer Lohnabhängiger – besonders in Bau- und Industriegewerkschaften – vollzog sich ein radikaler Kurswechsel. Die Gewerkschaft Bau & Holz (GBH) wurde zur Speerspitze des Protests: Sie dokumentierte systematisch die unwürdigen Lebensbedingungen der Saisonniers und machte die Forderung nach Abschaffung des Statuts zu einer zentralen politischen Frage.

Gewerkschaften gelang durchbruch

Doch die rechten Parteien und die Wirtschaftsverbände wollten das für sie politisch und ökonomisch gewinnbringende Kontingentsystem nicht aufgeben. Erst durch eine geschickte Doppelstrategie gelang den Gewerkschaften der Durch­bruch: Einerseits nutzten die Gewerkschaf­ten internationale Allianzen mit italienischen oder spanischen Gewerkschaften, die ihrerseits die EU zum Handeln zwangen. Andererseits verknüpften sie die moralische Kritik am Statut mit ökonomischen Argumenten:

Sie wiesen nach, dass das System nicht nur Menschenrechte verletzte, sondern auch Lohndumping beförderte und damit auch die einheimischen Lohnabhängigen schädigte.

Eine Mehrheit der Arbeitenden sahen migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr als Konkurrenz, sondern als Verbündete.

Die FlaM im Visier

Die Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU ab 2002 brachte eine historische Wende in der Schweizer Arbeitsmarktpolitik. Endlich wurden grundlegende Menschenrechte anerkannt:

  • Das Recht auf Familienzusammenführung
  • Die freie Wahl des Arbeitsplatzes
  • Verbleiberecht nach Ende der Beschäftigung

Die von den Gewerkschaften erkämpften flankierenden Massnahmen (FlaM) Personenfrei­zügigkeit schützen alle Arbeitnehmenden. Die Arbeitsverhältnisse können kontrolliert werden, fehlbare Firmen sanktioniert. Die Schwarzarbeit ging drastisch zurück – in der Landwirtschaft hat sie sich fast halbiert.

Ist alles perfekt? Nein! Doch die Personenfreizügigkeit mit den flankierenden Massnahmen ist grundsätzlich eine Erfolgsgeschichte. Ideologischen Arbeitgeberverbänden und bürgerlichen Politikern aber sind die FlaM ein Dorn im Auge. Darum spielen sie immer wieder mit dem Feuer und leisten den fremdenfeindlich grundierten SVP-Initiativen kaum Widerstand: Wenn sie den Schweizer Lohnschutz schleifen könnten, ohne Exportprobleme mit der EU zu bekommen, würden sie es sofort tun.

Nein zur LohnsenkungsInitiative

Wer heute die Rückkehr zu Kontingenten fordert, will nicht die Zuwanderung begrenzen – das hat dieses System nie geschafft. Es geht um etwas anderes:

Die Schaffung eines Zweiklassensystems auf dem Arbeitsmarkt, um Löhne zu drücken und Arbeitnehmende zu spalten.

Und selbstverständlich wird die Umwelt nicht gesünder, die Mieten sinken nicht, die Staus bleiben – und um verhockte Schlösser zu lösen, braucht’s weiterhin WD-40. Es wird die Aufgabe der Gewerkschaften sein, diese Zusammenhänge aufzuzeigen, um die brandgefährliche Lohnsenkungsinitiative der SVP an der Urne scheitern zu lassen.

Baracken-Schweiz: Das work-Leseheft

Die Unia hat den Kampf gegen die Ausbeutung von migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern in ihrer DNA. Und auch work hat den Kampf ­gegen das Saisonnierstatut dokumentiert und kommentiert. Zur einstigen Baracken-Schweiz erschien ein 48seitiges Bilder-Leseheft. Es ist gedruckt vergriffen, Sie können es aber gratis hier herunterladen.


Neues SGB-Dossier:Fakten statt Märchen

Spätestens seit die SVP ihre neuste Kündigungsinitiative («Nachhaltigkeitsinitiative») eingereicht hat, ist die Diskussion über die Schweizer Migrationspolitik wieder lanciert. Neu ist, dass sich auch der Economiesuisse-Präsident mit migra­tionskritischen Äusserungen einmischt. Doch bei all dieser ­Kritik stellt sich die Frage, ­was denn die Alternative zum ­heutigen System mit Perso­nenfreizügigkeit und flankierenden Massnahmen sein könnte.

Analyse

Ginge es den Arbeitnehmenden mit einem Punkte- oder Kontingentsystem besser? Oder wäre gar eine «Zuwanderungsabgabe» eine Alternative? Kurze Antwort: nein und nein! Daniel Lampart ist Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und hat die Zahlen und Fakten zusammenge­tragen; seine ausführliche und fundierte Analyse kann hier ­heruntergeladen werden.

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