EU-Parlamentswahlen: Ultrarechte mit strategischer Spitzkehre

Die Romanze am rechten Rand

Oliver Fahrni

Rechtsextreme Parteien werden im Juni die Europawahlen gewinnen. Stoppen können sie allein noch die Gewerkschaften – unter einer Bedingung.

EIN UNHEIMLICHES GESPANN:
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (l.) verwöhnt ihre neue rechte Freundin Giorgia Meloni.
(Foto: Keystone)

Niemand wird später sagen können, er oder sie habe nichts gewusst. Am 28. April drohte Ita­liens Regierungschefin Giorgia Meloni in Pescara an der Adria den 450 Millionen Menschen der EU mit einer rechten «Revolution». Natürlich unter ihrem Kommando.

Die Neofaschistin Meloni findet, die Lage Europas sei reif für eine Machtübernahme durch ihre Rechtsextremen. Nur neun Jahrzehnte nach der faschistischen Diktatur Mussolinis will auch sie Geschichte schreiben. Beim Sprechen formt sie die Hände zu Krallen. «Italien ist wieder eine Macht», sagt sie, und auf ihrem Podium steht: «Italien verändert Europa.»

DIE EU AUSHÖHLEN

Giorgia Meloni, seit Oktober 2022 im Amt, beschleunigt gerade den autoritären Umbau Italiens. Prominente Kritikerinnen und Kritiker lässt sie mit Prozessen einschüchtern. Für ­Gewerkschaften und NGO setzt es Prügel von Polizei und rechten Kommandos. Autorinnen und Journalisten werden zensuriert, den öffentlichen Rundfunk RAI hat sie zu ihrem Megaphon gemacht. Die Geschichte des Faschismus und der italienischen Kolonialmassaker lässt Meloni um- und schönschreiben. Jetzt greift sie die Abtreibung an. Und eine neue Verfassung soll ihr Macht einräumen.

Meloni höchstpersönlich führt die Liste ihrer Partei Fratelli d’Italia für die Wahlen ins EU-Parlament (6. bis 9. Juni) an. Dort tagen will sie aber nicht, der Zirkus dient einer grösseren Ambition. Die der ungarische Präsident Viktor Orbán, ein Mentor Melonis, so zusammenfasst: «Brüssel besetzen».

Auf den ersten Blick scheint das bizarr. Die Rechtsextremen sind die schärfsten EU-Feinde. Der Brexit gilt ihnen noch immer als Vorbild. Doch heute führt niemand so intensiv Wahlkampf wie die Ultrarechten, von Milliardären und neoliberalen Think-Tanks wie dem American Entreprise Institute kräftig alimentiert.

Diese strategische Spitzkehre ist der Absicht geschuldet, die EU von innen zu instrumentalisieren und auszuhöhlen. In Melonis Reden, im Programm der deutschen AfD und in den Meetings von Frankreichs ­Marine Le Pen tritt ein fixes Muster hervor: Europa der Nationen. Übersetzt: Sie wollen ein abgeschottetes, rachitisches Europa von autoritär regierten Einzelländern. Eine EU à la carte, die ihre Sozialstandards wie Gleichstellung, Ent­senderichtlinien oder Konzerverantwortung schleift. Die Gewerkschaften und Linke kriminalisiert. Die demokratische Regeln, Meinungsfreiheit und den Respekt der Menschenrechte streicht. Die den grünen Pakt für Klima und bessere Arbeit kippt und Klimabewegte als «Ökoterroristen» jagt. Neuerdings ist die Klimalüge zum dominierenden Mantra rechtsex­tremer Politik neben der Migration aufgestiegen.

ULTRAS FÜHREN DEN WAHL-TANZ AN

Verrückt nur, dass sie damit gewinnen könnten, obschon die Migration im europäischen Sorgenbarometer weit unten, das Klima aber weit oben steht. Derzeit führen rechte Ultras den Wahl-Tanz für das EU-Parlament in Italien, Frankreich, Österreich und den Niederlanden an. In Deutschand, Polen, Schweden und Portugal mischen sie vorne mit. Das neue europäi­sche Parlament dürften sie mit etwa 25 Prozent der Sitze dominieren. Was wiederum die EU-Kommission nach rechts drängt.

Gleichzeitig baut Meloni heimlich an einer Koalition mit der Europäischen Volkspartei (PPE) von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Solche Bündnisse zwischen Bürgerlichen und Rechtsextremen existieren bereits in diversen Ländern.
Als 2000 die ultrarechte FPÖ in Wien an die Macht kam, reagierte die EU noch mit scharfen Sanktionen. Heute verwöhnt von der Leyen ihre neue rechte Freundin. Meloni hat es geschafft, sich für Brüssel ein gemässigtes Image anzuschminken, indem sie etwa für die Ukraine-Kredite stimmte.

Die Annäherung ist ein Mass dafür, wie es um die Demokratie steht. Dunkel munkelte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dieser Tage: «Europa kann auch sterben.»

Nur ist der Mann eher Täter als Beobachter: Mit seiner neoliberalen Politik sozialer Zerstörung, immenser Bereicherung der wenigen, brutaler Repression jeden Protests, Abriss des Service public und mit zahlreichen Anti-Islam- und Sicherheitsgesetzen hat Macron den Neofaschisten einen Boulevard zur Macht geöffnet.

HIRNTOTE REGIERUNGSLINKE

Maurizio Landini, Generalsekretär des grossen italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL, sagt: «Seit dem ersten Tag fährt Meloni eine Offensive gegen die Arbeitenden. Diese Regierung missachtet die Gewerkschaften. Sie befiehlt, es gibt keinerlei sozialen Dialog mehr.» Also fuhr Landini nach Paris, um mit französischen und deutschen Gewerkschafterinnen gemeinsame Strategien gegen rechts zu gewinnen. Eine französische Syndikalistin: «Die Regierungslinke ist hirntot, der Neoliberalismus aber brutaler denn je. Also sind wir Gewerkschaften die letzte grosse demokratische Kraft, die sich den Rechtsextremen in den Weg stellen kann. Unsere Hand darf niemals zittern.»

«Warnendes, moralisierendes Gerede», das weiss Sophie Binet, Chefin der französischen CGT, «bringt nichts. Fast alle politischen Kräfte, die Sozialisten eingeschlossen, haben sich dem neoliberalen Diktat unterworfen. Doch wir schlagen die Rechtsextremen nur, wenn wir es wagen, starke Alternativen zu tragen, ein umfassendes progressives Projekt für die ganze Gesellschaft.» Also nur, wenn die Gewerkschaften ihre angestammten Kampfzonen erweitern und sie – zweite Bedingung – mit den zahllosen Bürgergruppen und NGO, die gegen Rassismus, Neoliberalismus und Nationalismus stehen, breite Bündnisse schaffen.


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