work-Wissen

Wo Jusos sich als Turner tarnen mussten

Jonas Komposch

Die Geschichte des wohl ­ältesten Volkshauses der Schweiz war praktisch vergessen. Dann ­tauchten in einem Estrichschrank antike Protokollbücher auf – mit überraschendem Inhalt.

GESCHICHTSTRÄCHTIG: Das Volkshaus St. Gallen wurde 1899 nach nur einjähriger Bauzeit eingeweiht, und die Gründer waren stolz, dafür nicht einen Subventionsfranken bezogen zu haben. (Foto: Stadtarchiv St. Gallen)

Wer «Volkshaus St. Gallen» googelt, landet als erstes auf der Website der Stadt St. Gallen – und wird dort direkt nach Zürich verwiesen, ans Volkshaus am Helvetiaplatz. Schon das zeigt, wie nötig das neue Buch von Ralph Hug ist. Der Historiker und work-Autor hat die bewegte Geschichte des St. Galler Volkshauses aufgearbeitet. Mit Baujahr 1899 ist es womöglich sogar das älteste Volkshaus der Schweiz. Zwar ist von einem vielseitigen sozia­len, kulturellen und politischen Leben nicht mehr viel übrig. Doch nach wie vor gehört die Liegenschaft einer Genossenschaft, in der alle grossen Gewerkschaften vertreten sind. Und die Unia Ostschweiz-Graubünden hat im ziegelroten Backsteinbau mit Sandsteinfundament ihre Zentrale. Über die Geschichte des Hauses war lange Zeit wenig bekannt, denn die Protokollbücher aus der Entstehungszeit galten als verschollen. 2019 tauchten sie doch noch auf – zuhinterst in einem Estrichschrank. Für Historiker Hug ein wahrer Sensationsfund.

MIGRANTEN ALS PIONIERE

Er studierte die Bände als erster. Sie stammen vom Allgemeinen Arbeiterbildungsverein, Bauherrn und erstem Träger des Volkshauses. Treibende Kraft hinter diesem Verein waren nicht etwa Einheimische, sondern Migranten, namentlich deutsche Handwerksgesellen. Das Gründungsprotokoll aus dem Jahr 1872 zählt als Mitglieder 350 Deutsche, 53 Schweizer, 42 Österreicher, einen Italiener und einen Schweden. Frauen waren nicht dabei. Wobei Hug betont, dass diese keineswegs untätig waren. 1886 entstand in der Gallusstadt sogar der erste Arbeiterinnenverein der Schweiz. Und diese Frauen hatten zentrale Funktionen, darunter das Kochen in der Speisegenossenschaft. Diese war laut Hug nichts weniger als «die Seele des Arbeiterbildungsvereins», gab täglich Hunderte günstige Mahlzeiten aus und trug so wesentlich zum Wachstum der Bewegung bei. Denn ohne Mampf kein Kampf. Nebenbei füllte der Restaurationsbetrieb das Kässeli für den langersehnten Volkshaus-Bau.

Gutes Geld verdiente die Speisegenossenschaft auch mit dem Verkauf von Zigarren und Stumpen. Dank solchen Einnahmen vermochten die Volkshaus-Gründer auf eigenen Beinen zu stehen. Als sie 1899 ihr Haus einweihten, betonten sie stolz, nicht einen Subventionsfranken beansprucht zu haben. Unabhängigkeit war auch später zentral. Das zeigt ein Beispiel aus den 1920er Jahren, als die massiv gewachsenen Arbeiterverbände Pläne für ein zusätzliches Gewerkschaftshaus schmiedeten. Die Brauerei Schützengarten bot an, die Baukosten zu übernehmen, wenn dafür im Haus auf ewig nur «Schüga» ausgeschenkt werde. Die Gewerkschaften lehnten dankend ab.

ANLAUFSTELLE FÜR EXILIERTE

Hugs Volkshaus-Buch ist eine vielschichtige und packend geschriebene Sozialgeschichte einer lokalen, aber von Anfang an international inspirierten Institution. Nicht zufällig war das Volkshaus im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Anlaufstelle für antifaschistische Exilanten. Und auch die russische Linkssozialistin Angelica Balabanoff klopfte 1903 ganz bewusst im Volkshaus an. Dort fand sie einen Arbeitsplatz für ihre berühmte Kampagne gegen die Ausbeutung von jungen Italienerinnen in Ostschweizer Fabrikheimen.

Das St. Galler Volkshaus von Ralph Hug, fester Einband, 160 Seiten, zum Preis von zirka 40 Franken.

KEIN REVOLUTIONSHERD

Ein Hort des Umsturzes war das Volkshaus aber nie. Die kommunistische Partei der Arbeit hatte lange sogar Hausverbot. Die antimilitaristischen Jusos mussten Säle noch 1981 unter dem Decknamen «Turn- und Sportverein St. Otmar» mieten.

Insgesamt aber habe «eher ein pragmatischer statt ideologischer Geist» geweht, bilanziert Hug. Was zum Überleben des Hauses beigetragen habe. Jedenfalls stehe an der Lämmlisbrunn­strasse noch heute ein «in Sandstein gehauenes Symbol der Solidarität». Und zwar eines, das die Arbeiterbewegung selbst erschaffen hat. Nicht wie in Zürich. Dort war das Volkshaus auf Anregung des Bürgertums entstanden – als milde Gabe zur Besänftigung der Linken.

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