Massenentlassung in Schweizer Stahlindustrie

«Wir sollten eine Verstaatlichung der Stahlwerke prüfen»

Iwan Schauwecker

Das Stahlwerk Gerlafingen schliesst eine ganze Produktionslinie, 95 Arbeitsplätze sind davon betroffen. Auch bei Swiss Steel in Emmenbrücke schmilzt das Vertrauen in den Erhalt von Arbeitsplätzen und in die Zukunft des Schweizer Schrott-Recyclings. Wirtschaftsminister Parmelin beobachtet die Lage und – tut nichts.

STAHLWERK GERLAFINGEN: Das Vertrauen in die Zukunft schmilzt dahin. (Foto: Fabian Biasio)

Früher war Martin Haefner (70) Mathematiklehrer und wollte sich aus den Geschäften des Vaters raushalten. Sein Vater war der Gründer von Amag, dem grössten Autohändler der Schweiz. Doch inzwischen beschäftigen Haefner die grossen Zahlen nicht mehr nur in der mathematischen Theorie. Denn Haefner ist Milliardär und Grossaktionär beim Stahlkonzern Swiss Steel. Der Amag-Erbe hat bereits 600 Millionen Euro bei Swiss Steel investiert und kündigte Mitte März einen weiteren Kredit von 300 Millionen Euro an, um die Konzernverluste des letzten Jahres zu decken. Doch die anderen Grossaktionäre des Stahlkonzerns wollen oder können nicht mehr mitpokern. Stadler Rail Patron Peter Spuhler hat sich mit Haefner verkracht und der Oligarch Viktor Vekselberg steht auf einer Sanktionsliste der USA. Die Zukunft von Swiss Steel und des Stahlwerks in Emmenbrücke (LU), wo 700 Personen arbeiten, ist deshalb höchst ungewiss.

95 ARBEITSPLÄTZE WEG

Auch bei Stahl Gerlafingen im Kanton Solothurn schmilzt das Vertrauen in eine Zukunft ohne Staatshilfe. Die Besitzerfamilie Beltrame hatte bereits Mitte März eine Massenentlassung angekündigt und macht jetzt Ernst: Sie will eine ganz Produktionslinie schliessen und damit 95 Stellen abbauen. Die Gewerkschaften Unia und Syna und die Angestellenorganisation Kaufmännischer Verband Schweiz fordern eine Ausdehnung der Konsultationsfrist, die Offenlegung aller nötigen Informationen und eine bessere Einbindung der Sozialpartner. Auch auf politischer Ebene laufen die Drähte heiss. Quer über alle Parteilinien hinweg rufen Politikerinnen und Politiker nach Staatshilfe. Das ist eine Trendwende. Die Solothurner Ständerätin Franziska Roth (SP) und Nationalrat Christian Imark (SVP-SO) fordern vom Bundesrat Sofortmassnahmen, «gegebenenfalls mit Notrecht», um das Stahlwerk zu retten. In der Motion, die von allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus dem Kanton Solothurn unterzeichnet wurde, wird vor einer Schliessung des Werks gewarnt. Damit würden etwa 540 Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Stelle verlieren. Sogar der FDP-Ständerat Damian Müller ruft zusammen mit Nationalrat David Roth (SP) um Staatshilfe. Eher verzweifelt klingen da die Warnungen der neoliberalen Lobby-Organisation Avenir Suisse, die in einer neuen Studie ihre grundsätzliche Abneigung gegen eine staatliche Industriepolitik bekräftigt. Und auch der Swissmem-Präsident Stefan Brupbacher will die Büezer weiterhin der Willkür der Märkte und Milliardäre überlassen.

EU FÖRDERT STAHLINDUSTRIE

Aufgrund dieser ideologischen Haltung sind die beiden Schweizer Stahlschmelzen, die jährlich 1,5 Millionen Tonnen Stahlschrott für die Bau-, Maschinen- und Autoindustrie rezyklieren, jetzt akut gefährdet. Die Wiederverwendung von Stahlschrott ist klimaschonend und wichtig für die Schweizer Kreislaufwirtschaft (siehe Text rechts). Deshalb hat das Parlament vom Bundesrat bereits letztes Jahr Massnahmen zur Sicherung des Produktions- und Recyclingstandorts Schweiz gefordert. Eine späte Reaktion auf die Industriepolitik der EU und in den USA. Die EU hat mit der Einführung von Klimazöllen noch weitere Massnahmen zum Schutz des Klimas und der europäischen Industrie ergriffen. Und seit 2018 schützt sie ihre Stahlproduzenten mit Kontingenten für die Einfuhr von Nicht-EU Stahl. Diese Importkontingente, höhere Strompreise und eine weltweite Überproduktion führen zu den grossen finanziellen Verlusten der Schweizer Stahlwerke.

ENDLICH SOZIAL UND ÖKOLOGISCH PRODUZIEREN

Peppina Beeli ist bei der Unia verantwortlich für Klimapolitik. Sie sagt: «Ohne die beiden Werke müsste unser Stahlschrott fürs Recycling ins Ausland transportiert und Produkte über längere Wege eingekauft werden. Im Hochofen produzierter Stahl ist zudem viel klimaschädlicher als der aus Schrott gewonnene Stahl.» Eine Unterstützung der Werke in Gerlafingen und Emmenbrücke hält Beeli deswegen für angezeigt – aber unter Bedingungen: «Die Firmen müssen sich zur klimafreundlichen Produktion genauso verpflichten wie zum Erhalt der Arbeitsplätze und sie müssen die Gewerkschaften in die Planung und Umsetzung der Umstellungen miteinbeziehen. Die Unia fordert eine solche ökosoziale Industriepolitik schon lange». Matteo Pronzini, Branchenleiter MEM-Industrie bei der Unia, ergänzt: «Auch eine Verstaatlichung muss geprüft werden, sollten die Stahl-Unternehmen den ökosozialen Umbau nicht selber in die Hand nehmen.»

PARMELIN TUT NICHTS

Inzwischen habe das Werk in Emmenbrücke die tiefsten CO2-Emissionen in der ganzen Swiss Steel Gruppe, schreibt der Konzern auf Anfrage von work. Swiss Steel möchte aber noch mehr tun: Zum Beispiel die Hitze aus dem Schmelzprozess wiederverwenden oder von Erdgas auf Wasserstoff umstellen. Dies wäre jedoch mit grossen Investitionen verbunden, die derzeit zu riskant und kostspielig seien: «Wir produzieren an verschiedenen Standorten in Europa und Nordamerika. Wenn andere Länder ihre Klimapolitik mit einer Industriestrategie und einer daraus abgeleiteten aktiven Industriepolitik begleiten, verschlechtert das die Rahmenbedingungen für eine Investition in die Schweiz.» Wirtschaftsminister Guy Parmelin zeigt sich von solchen Aussagen bisher unbeeindruckt: Man beobachte die Situation der Schweizer Stahlwerke, sagte er im Radio SRF. Konkrete Vorschläge und Bedingungen für eine staatliche Hilfe für die Schweizer Stahlindustrie bleiben bisher aus.


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