«Verrückt, was heute alles um den Erdball gekarrt wird»

Tatort A 1: Warenwahn auf der Autobahn

Iwan Schauwecker

Die A1 durchzieht das Mittelland als Hauptschlagader ­des Warenverkehrs. work fuhr ­mit Nadir Garzetti (63) im 40-Tönner Richtung Westen.

Es ist noch finster und neblig, als Nadir Garzetti um sieben Uhr seinen Arbeitstag beginnt. Am Hauptsitz der Speditionsfirma Planzer in Dietikon ZH steigt er in seinen Sattelschlepper und fährt los. Der dichte Verkehr rollt heute flüssig durch die Tunnelröhre am Gubrist. ­Erster Halt: Zürich Flughafen. Der Nebel hat sich verzogen, und die Sonne spiegelt sich in den blanken Fassaden der Frachthallen. Garzetti erzählt, dass er hier auch schon Pakete «Made in China» für den Flug nach Schanghai abgeliefert habe. «Es ist verrückt, was heute alles um den Erdball gekarrt wird», sagt er und schiebt die Kisten mit Destination «Kuwait» in die Lagerhalle. Nach Kafi und Zigi chauffiert er den Lastwagen zurück in den dichten Nebel Richtung Dielsdorf ZH.

VOM BANKER ZUM LASTWÄGELER

Garzetti war in seinem früheren Leben Investmentbanker bei der Credit Suisse, war in Zürich, London und New York zu Hause. Später arbeitete er bei der Zurich-Versicherung in der Finanzabteilung. Irgendwann verlor er durch eine «Restrukturierung» seinen Job. Da wurde ihm klar: es braucht einen Neustart. «Es gibt in dieser Welt der Banken zu viel Neid, Missgunst und Materialismus.» Deshalb sitzt er jetzt am Steuer eines 40-Tönners. Garzetti: «Jetzt bin ich megaglücklich mit meinem Job.» Bei einer Stahlfirma in Dielsdorf zirkelt Garzetti den sechzehneinhalb Meter langen Camion rückwärts in die enge Fabrikhalle hinein. 23 Palette mit Armierungseisen und ein paar Stahlbünde muss er hier laden. Danach muss er eine Viertelstunde Pause einlegen, sonst würde er eine Busse wegen fehlender Ruhezeit riskieren. Der Fahrtenschreiber im Lastwagen zeichnet alle Bewegungen auf.

DIE LASTWAGENLAWINE ROLLT

Weiterfahrt auf der A 1 durch den Bareggtunnel. Auf der Gegenfahrbahn defilieren die grossen Schweizer Logistikkonzerne: Galliker, Bertschi, Schöni, Emil Egger und viele andere mehr. Aber Planzer ist das grösste private Transportunternehmen in der Schweiz und beschäftigt heute fast 6000 Mitarbeitende. Mit der Übernahme von Quickmail und Quickpac kommen nochmals 3600 Personen dazu. Die Logistikbranche in der Schweiz hat enorme Wachstumsraten. «Die Zalando-Päckli fallen nicht vom Himmel, das schafft auch einen gewaltigen Warenfluss auf den Strassen», sagt Garzetti. Links zieht das Logistikzentrum von Quali-Night in Kölliken (siehe Box) vorbei, an dem Planzer ebenfalls beteiligt ist. Weiter geht die Fahrt durch Safenwil Richtung Härkingen, eines der Stauzentren der Schweiz.

Geduld sei in diesem Job unerlässlich, sagt Garzetti. Für ihn ist klar, dass es den Ausbau der A 1 auf drei bis vier Spuren braucht. «Denn der Verkehr wird weiter zunehmen.» Weiter geht es Richtung Westen. Bei Freiburg liefert Garzetti die Armierungseisen für den Neubau der kantonalen Bibliothek. Letzte Station des Tages ist Lausanne. Die Rückfahrt in die Deutschschweiz liegt danach wegen des Nachtfahrverbots nicht mehr drin. Für Garzetti kein Problem. Er wird im Truck sein Bett einrichten und am nächsten Tag zurückfahren.

Logistik: Schwache GAV und Busse für Planzer

Die Löhne der Chauffeure in der Schweiz sind in der Regel tief und die Arbeitszeiten lang. Die Unia fordert einen allgemeinverbindlichen GAV mit kürzeren Arbeitszeiten, Schutz vor Lohndumping und besserem Gesundheitsschutz.

44 STUNDEN. In der Schweiz arbeiten etwa 200 000 Menschen in der Branche, viele auch als Kurierinnen und Kuriere. Für sie gelten im Gegensatz zu den Lastwägelern die Regeln der Aufsichtsbehörde Postcom und der Syndicom-GAV mit maximal 44 Arbeitsstunden pro Woche. Doch der Paketdienst Planzer und der Nachtexpress Quali-Night missachteten diese Regel: In beiden Firmen galt die 48-Stunden-Woche auch für Kurierinnen und Kuriere. Planzer Paketdienste und Quali-Night wurden des­wegen zu 96 000 und 53 000 Franken Busse verurteilt.


Stau und Pannen: Schweizer Autobahn-Fieber

STEHZEUGE: Autos stecken jährlich 30 000 Stunden im Stau. (Foto: Keystone)

Die Allianz «Stopp Autobahn-Bauwahn» hat Anfang Januar das Referendum gegen die Ausbaupläne des Parlaments eingereicht. Denn klar ist: Mehr Autobahnen führen zu mehr Stau, sie sind klimaschädlich, und sie stehen im Widerspruch zu den Klimazielen der Schweiz.

Das Referendum richtet sich gegen diverse Ausbauprojekte in Basel, Bern, Nyon, Schaffhausen und St. Gallen. Sechs Streckenabschnitte sollen ausgebaut werden. Kostenpunkt: 5,3 Milliarden Franken. Die geplante Erweiterung am Grauholz bei Bern ergäbe die erste achtspurige Autobahn in der Schweiz. Die Stadt Bern sowie weitere betroffene Gemeinden, Landwirte und Grundeigentümer haben Einsprachen gegen das Projekt erhoben.

NOCH MEHR VERKEHR. Aktuell sind in der Schweiz etwa 6,5 Millionen Fahrzeuge angemeldet. Knapp eine halbe Million dieser Fahrzeuge sind Güterfahrzeuge, und 4,7 Millionen sind Personenwagen. Damit besitzt im Schnitt jede zweite Person in der Schweiz ein Auto. Die Zahl der Staustunden hat sich zwischen 2010 und 2022 mehr als verdoppelt. Verschiedene Studien zeigen jedoch, dass zusätzliche Strassen tendenziell noch mehr Verkehr bringen: «Wer Strassen sät, erntet Verkehr.» Mit diesen Strassen und dem Mehrverkehr rechnen die Verkehrsplanerinnen und -planer des Bundes: Sie gehen bis 2050 von einem weiteren Wachstum des motorisierten Verkehrs von 11 Prozent aus.

MASSNAHMEN GEGEN STAU. Für die Umweltorganisation Umverkehr wäre eine «Carpooling-Lane» in den Stosszeiten eine Sofortmassnahme gegen den Stau. Das ist eine Spur, auf der nur fahren darf, wer nicht alleine im Auto sitzt. Silas Hobi, Geschäftsleiter von Umverkehr: «Das wäre schneller und günstiger umzusetzen als die geplanten Ausbauprojekte.» Auch das Bundesamt für Verkehr (Astra) möchte den Strassenraum effizienter und intelligenter nutzen. Geplant sind bisher jedoch nur Anlagen zur ­Reduktion der Geschwindigkeit und die temporäre Umnutzung der Pannenstreifen.


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