Der orange Riese: 20 Jahre antigewerkschaftliche Blockade

Wo sie «sozial» ist, bestimmt die Migros selber

Christian Egg

Radikalkur bei der Migros: 1500 Stellen weg, SportX weg, Melectronics weg. Aber keine Sorge, man sei eine soziale Arbeitgeberin. Wirklich?

MIGROS MAGERT AB: Der Handelskonzern veräussert Firmen und streicht Stellen. (Foto: Imago)

Es ist der grösste Stellenabbau in der Geschichte der Migros: Bis zu 1500 Jobs will der orange Riese streichen. Was nicht zum «Kerngeschäft» gehört, will er gleich reihenweise abstossen. Trotz Rekordumsätzen.

Vorerst sucht er Käufer für die Fachmärkte Melectronics und SportX, für das Reiseunternehmen Hotelplan und den Kosmetikhersteller Mibelle. Unsicher ist auch die Zukunft von Do It + Garden, Obi, Micasa und Bike World: sie werden «einer eingehenden Prüfung unterzogen», so die Migros. Klar ist: Auf die 98 000 Mitarbeitenden des Dutti-Konzerns kommen unsichere Zeiten zu. Anne Rubin, Co-Leiterin Detailhandel bei der Unia: «Viele unserer Mitglieder sind schockiert über das Ausmass. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die massgeblich zum Erfolg beitragen, noch einmal die Hauptlast einer undurchsichtigen Strategie tragen sollen!» Die Unia fordert, dass die Migros zumindest keine Kündigungen ausspricht.

In der Medienmitteilung schreibt der Konzern nur, er wolle «Kündigungen möglichst vermeiden». Und lobt sich gleich selber: Die Migros sei eine «soziale Arbeitgeberin». Wirklich?

Zwar hat die Migros einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Neben den Läden gilt er für einige Tochtergesellschaften, nicht aber für Denner, Digitec Galaxus, Migros Online und viele andere im Migros-Universum. Töchter, die jetzt verkauft werden, fallen nach Ablauf eines Jahres aus dem Migros-GAV. Es scheint wahrscheinlich, dass die neuen Besitzer weitere Stellen abbauen werden. Und eine Zusicherung, dass nach den Verkäufen die Arbeitsbedingungen nicht verschlechtert werden, hat die Migros bisher nicht gegeben.

NUR DIE BRAVEN SIND TOLERIERT

Mehr noch: Dem Migros-GAV fehlt eine unabhängige Gewerkschaft, die Verkäuferinnen und Verkäufer vertritt. Vertragspartner sind neben der Migros nur der Kaufmännische Verband, der Metzgereipersonal-Verband und die hauseigene Migros-Landeskommission. Alles Körperschaften, die nicht gerade mit offensiven Positionen auffallen. Mit der Unia, der grössten Gewerkschaft der Schweiz und stark im Detailhandel, will die Migros dagegen nicht verhandeln. Und zwar seit mehr als 20 Jahren. Im Rückblick:

Fragwürdiger Rausschmiss: Bevor die Unia entstand, war die Gewerkschaft VHTL während 30 Jahren Teil des Migros-GAV. Doch als der VHTL entschied, sich der Unia anzuschliessen, schmiss ihn die Migros 2003 aus dem Vertrag.

Maulkorb: 2004 liess sich die Migros trotzdem zu Verhandlungen mit der neuen Unia herab. Man fand einen Kompromiss, beide Seiten stimmten zu. Doch nachträglich verlangte die Migros, dass die Vertragspartner auf ­jegliche öffentliche Auseinandersetzung ­verzichteten. Ein Maulkorb, den die Unia nicht akzeptieren konnte.

Hausverbote: Immer wieder versuchte die Migros, der Unia Hausverbot zu erteilen, und klagte gar wegen Hausfriedensbruchs. Vor Gericht blitzte sie mehrmals ab.

Nein, nein, nein: Die Unia gab nicht auf und stellte immer wieder Anträge, Partnerin im Migros-Vertrag zu werden. Zuletzt 2019. Die Migros lehnte immer ab.

Funkstille: Im Mai 2023 übernahm Mario ­Irminger den Migros-Chefposten. Die Unia schlug ein Treffen vor, um sich gegenseitig kennenzulernen. So wie es auch mit seinen Vorgängern stattgefunden hatte. Doch diesmal gab es keinerlei Reaktion.

Absage: Gerüchte um den bevorstehenden Stellenabbau verunsicherten Ende letzten Jahres viele Unia-Mitglieder. Erneut bat Unia-Frau Rubin um ein klärendes Treffen mit den orangen Verantwortlichen. Die lehnten ab.

NICHT ERNST GENOMMEN

Anne Rubin weiss: Viele Unia-Mitglieder in der Migros fühlen sich nicht mehr ernst genommen von ihrem Arbeitgeber. «Sie haben die Unia gewählt, um ihre Interessen zu vertreten. Sie verstehen nicht, dass die Migros dieses Recht missachtet.»


Mischkonzern Migros Was nicht rentiert, muss weg

Hotelferien und Hörgeräte, Arztpraxen und eine Bergbahn: Das Migros-Universum bleibt unübersichtlich.

EIN M WENIGER: Hotelplan steht auf der Migros-Verkaufsliste. (Foto: Keystone)

Migrolino, Migros-Klubschule, Migrol-Tankstellen: Klar, die gehören zur Migros. Denner und Ex Libris ebenfalls. Aber das ist längst nicht alles. Aktuell gehören rund 50 Unternehmen zur Migros-Gruppe. Jahrzehntelang griffen die Dutti-Erben zu, wenn sich die Gelegenheit zur Expansion ergab. Sie lancierten neue Ladenketten und machten sich im Gastgewerbe breit. So sehr, dass sie vor zehn Jahren mit über 300 Restaurants die Nummer eins in der Schweizer Gas­tronomie waren.

Doch gegen Ende der 2010er Jahre geriet die Migros unter Druck. Die Konkurrenten Coop, Aldi und Lidl gewannen an Terrain, offensichtlich kamen sie besser mit den neuen Herausforderungen Onlinehandel und Einkaufstourismus zurecht. Innerhalb von fünf Jahren sackte der Reingewinn auf die Hälfte zusammen. Die Migros-Spitze entschied: Was nicht rentiert, muss weg. Als erstes wurde 2018 Office World verkauft, 2019 folgten Interio und Depot. Auch die knapp 10 Jahre zuvor von der Migros selber gegründete Tochter M-Way (Elektrobikes) kam unter den Hammer.

Noch härter traf es die Müller-Reformhäuser, an denen die Migros mit 40 Prozent beteiligt war: 2023 ging die Firma konkurs. Abspecken musste auch die Gastronomie, Ketten wie Cha Cha oder Chickeria wurden eingestampft. Die Zahl der Restaurants sank von 300 auf knapp 230.

Jetzt also die nächste Verkaufswelle. Sie trifft nicht mehr zugekaufte Firmen, sondern Zweige, die die Migros selbst aufgebaut hat. Darunter Hotelplan, 1935 von Übervater Gottlieb Duttweiler mit dem Versprechen gegründet, Leuten aus einfachen Verhältnissen erstmals überhaupt Ferien erschwinglich zu machen.

Und trotzdem: Der Migros-Konzern bleibt gigantisch und unübersichtlich. Dazu gehören der mit Abstand grösste Onlinehändler der Schweiz, Digitec Galaxus, 6 Industriebetriebe mit Vertriebsfirmen bis nach China, Activ Fitness mit 121 Studios, aber auch die Bergbahn auf den Monte Generoso. Über Tochterfirmen gehören der Migros weiter: 55 medizinische Zentren von Medbase, 40 Topwell-Apotheken, die Versandapotheke Zur Rose und 25 Misenso-Läden (Brillen und Hörgeräte).

Ebenfalls im Portfolio: 13 000 Wohnungen, darunter auch Luxusobjekte, 6 Golfplätze, 4 Erholungsparks, ein Forschungsinstitut. Eine Kochzeitschrift und das Migros-Magazin, zweitgrösste Wochenzeitschrift der Schweiz. Und nicht zu vergessen: die Migros-Bank.

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