Fast 70 Länder: 2024 ist ein globales Super-Wahljahr

Wo die extremen Rechten Kreide  fressen

Oliver Fahrni

Die halbe Menschheit wird dieses Jahr neue Parlamente oder Regierungen wählen. Die extreme Rechte mischt zuvorderst mit. Kann die Demokratie das überleben?

Links: Donald Trump, USA; 2. von links: Rishi Sunak, Grossbritannien; vorne: Narendra Modi
Indien; rechts: Wladimir Putin, Russland (Montage: work; Fotos: Getty (1), Keystone (3))

Gott schaute auf sein Werk und befand, die Welt brauche einen Retter. Also schuf er Donald Trump. So inszeniert sich der Immobilien-Tycoon in einem Wahl-Werbespot als Gesandter Gottes. Ein Putschist, Rassist, mutmasslicher Milliarden-Betrüger, Frauengrapscher, Klimaschwurbler und Serienlügner von Gottes Gnaden. Slogan: «Und er gab uns Trump.»

Religiöser Wahn verkauft sich in den USA gut. Der Mann hat Chancen, am kommenden 5. November ein zweites Mal zum Präsidenten der westlichen Führungsmacht gewählt zu werden. Seinen Kritikerinnen und Richtern hat er blutige Rache geschworen. Senator Bernie Sanders, der alte Linke, sagt: «Die Wahl Trumps wäre das Ende der Demokratie.» Übertreibung? Nein, sogar die grossen Wirtschaftsblätter und einige Republikaner teilen die Warnung. Der Angriff von Trumps Horden auf das US-Parlament (Capitol) nach der Wahlniederlage 2020 war nur ein Vorspiel.

PURE FARCE

Heute stehen die Zeichen auf Sturm, wegen Klima, Inflation, Nahost und Ukraine. Und wegen des grassierenden Neofaschismus. Das Jahr 2024 wird weltweit zu einem entscheidenden Jahr für Bürgerrechte, sozialen Fortschritt, zivilen Frieden und Menschenrechte. Denn die Stimmberechtigten in 68 Ländern wählen neue Parlamente, Regierungen oder Präsidenten. Etwa in Indien und in der EU, in Russland wie in den USA, in Mexiko, Südafrika, Portugal, Grossbritannien, Iran … Die halbe Menschheit ist zur Urne gerufen.

Wahlen sind noch kein sicheres Zeichen für Demokratie. Etliche dieser Urnengänge sind pure Farce. Entscheidender ist: Auch in Ländern mit halbwegs intakten Institutionen stehen die Rechtsextremen an der Schwelle zur Macht – oder regieren schon, wie in Italien, Ungarn, Finnland, der Slowakei. In den früher toleranten Niederlanden ist der Rassist Geert Wilders der neue starke Mann. Schwedens Ultrarechte tragen die Regierung mit. Und überall legen sie zu, sogar in Deutschland mit der AfD (siehe Artikel links). Das Land schien gegen die braune Pest geimpft, nach Drittem Reich und Shoah. Jetzt aber geht es sehr schnell, an einer Geheimkonferenz planten AfD-Grössen mit finanzstarken Unternehmern schon wieder die Deportation von Millionen Nicht-Ariern.

Aufdecken musste das eine Undercover-Recherche. Denn die Rechtsextremen agieren gerne maskiert. Sie fressen Kreide, wie Frankreichs Marine Le Pen oder die schlaue italienische Regierungschefin Giorgia Meloni. Nur bricht Melonis Verehrung des Faschismus-Begründers Benito Mussolini immer wieder durch. Ihre Partei ist eine Sammlung von Rassisten, Nazi-Schlägern, Monarchisten, katholischen Fundis, Mafiosi und gutfrisierter Bourgeoisie: 50 Schattierungen von Braun.

TRICKREICH GESCHMINKT

Bei den Wahlen ins Europaparlament im Juni wollen Le Pen & Co. erreichen, was bei den nationalen Wahlen manchmal schwierig ist: den alten Kontinent unter natio­nalistische, rassistische und autoritäre Kon­trolle stellen. Und plötzlich fragen Leitartikler verdattert: Kann man die rechte Flut noch stoppen? Und: Warum wählen die Menschen Ideologien, die gerade eben das blutigste Jahrhundert der Geschichte angerichtet haben?

Die Erklärungen mit Immigration und islamischer Gefahr sind bloss aufgesetzt, Sündenböcke, wie es die Juden waren. Tatsächlich haben vier Jahrzehnte neoliberaler Kapitalismus die erkämpften sozialen Sicherheiten und den Service public aufgerieben, während sich eine hauchdünne Schicht von Besitzenden extrem bereichert hat. Die jetzt gar die Zukunft der Menschheit im Finanzcasino fossiler Energien verspielt.

Logisch, beklagen die Mittelschichten (die die Kerntruppe der Rechten stellen) ihren sozialen Fall ins Bodenlose. Logisch, fühlen sich die Büezerinnen und Büezer von den Regierungslinken, die sich neoliberal gewendet haben, im Stich gelassen. Da brauchten die Rechtsextremen nur noch einen kleinen Trick: Sie schminkten sich zu Anti-System-Parteien. Dass sie das nicht sind, belegt ihr Abstimmungsverhalten in den Parlamenten und ihre Regierungsarbeit: Konkret handeln sie immer antisozial und ultraliberal kapitalfreundlich. Sie sind die Krücke des Systems. Sie spielen auf die Rasse statt auf die Klasse.

EIN STÜCK HOFFNUNG

Doch dabei enthüllt sich die andere Hälfte der politischen Realität. In der Dauerkrise seit 2008 haben die Neoliberalen ihr Regime autoritär verschärft. Kapitalismus und Demokratie gehen nicht zusammen. Das hatten die neoliberalen Ideologen schon in den 1930er Jahren notiert. Heute saldiert das Bürgertum sämtliche Errungenschaften von Aufklärung und Demokratie.

Wie kürzlich in Paris. Unter den goldenen Leuchtern der Republik und vor der Losung «Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit» erzwang Präsident Emmanuel Ma­cron ein rassistisches Immigrationsgesetz, das alle Forderungen von Le Pens Nationaler Front enthält. «Wir haben ideologisch gewonnen», sagte die Neofaschistin danach.

Paradoxerweise steckt gerade darin ein Stück Hoffnung. Das Kapital wählt autoritäre Wege immer dann, wenn ihm die Kontrolle über die Gesellschaft zu entgleiten droht. Ein interessantes Indiz: Das implizite, manchmal offene Bündnis zwischen Bürgertum und extremer Rechten könnte gut am erwachten Widerstand des Volkes scheitern.


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