Ratgeber

Weihnachtslied wird zur Arbeiterhymne

Maria Künzli

Es gibt kein Entkommen, sie sind überall. Und doch wäre Weihnachten ohne Weihnachtslieder nicht dasselbe. Eines von ihnen hat eine überraschende Geschichte.

IO TANNENBAUM: Der oft besungene Nadelbaum war ursprünglich kein Symbol für Weihnachten, sondern für Treue. (Foto: Getty Images)

Zählen Sie ganz schnell drei Weihnachtslieder auf. Nicht lange überlegen, einfach raus damit. Vielleicht fällt die Antwort so aus: «Last Christmas», «Stille Nacht», «O Tannenbaum». Man kommt in der Adventszeit nicht um sie herum, sie tönen aus dem Radio, beschallen beim Einkaufen, auf dem Weihnachtsmarkt und ploppen in der Playlist auf. Manchmal nerven sie gewaltig, und doch ist Weihnachten ohne sie nicht denkbar. Doch wussten Sie, dass einer dieser Ohrwürmer zuerst gar kein Weihnachtslied war und bis heute sehr politisch ist?

DER TREUE NADELBAUM. Joachim August Zarnack (1777 bis 1827) hatte ein besonderes Hobby: Der deutsche Lehrer und Direktor des Potsdamer Militärwaisenhauses sammelte in seiner Freizeit Volkslieder und schrieb auch selbst welche. 1820 veröffentlichte er die Liedersammlung «Deutsche Volkslieder mit Volksweisen für Volksschulen». Für die Sammlung hatte Zarnack das damals bekannte Stück «Es lebe hoch, es lebe hoch, der Zimmermannsgeselle» zu einem Liebeslied umgeschrieben – oder eher zu einem Liebeskummerlied: «O Mägdelein, o Mägdelein, wie falsch ist dein Gemüte», heisst es da. Das untreue Wesen wird im Songtext in Kontrast zum Tannenbaum gestellt, der mit seinen immergrünen Nadeln als Symbol der Treue gefeiert wird.

Vier Jahre nach der Veröffentlichung von Zarnacks Liedersammlung suchte Ernst Anschütz (1780–1861), Kantor an der Georgenkirche in Leipzig, nach Weihnachtliedern für die bevorstehende Feier. Nicht das tausendmal gehörte Zeug sollte es sein, sondern schmissige Lieder, die auch Kinder gerne singen. So stiess er auf das ein­gängige Liebeskummerlied von ­Joachim August Zarnack und schrieb es zu einem Weihnachtslied um. Viel musste er dafür nicht ändern, weil die Tannenbaumsymbolik perfekt passte: Bereits seit dem Mittelalter wird der Tannenbaum im deutschsprachigen Raum mit Weihnachten in Verbindung gebracht. Anschütz entfernte einfach die anstössigen Zeilen über das untreue Mägdelein, und fertig war das Weihnachtslied. Die Liedzeile «O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter» liess er unverändert. Erst viele Jahre später setzte sich die Variante «O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter» durch.

ARBEITERBEWEGUNG. Dass «O Tannenbaum» als Weihnachtslied weltweit bekannt wurde, erlebte Ernst Anschütz nicht mehr. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Tannenbaum so richtig in Fahrt und wurde in viele Sprachen übersetzt. Vorher wurde die Ohrwurmmelodie aber immer ­wieder für politische Zwecke ­genutzt. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte auch die erstarkende Arbeiterbewegung die Melodie für sich: Den Text zu «The Red Flag» schrieb der irische Aktivist Jim Connell 1889, zwanzig Jahre später wurde das Lied in der ersten Ausgabe des «Little Red Songbook of the Industrial Workers of the World» abgedruckt. «The Red Flag» wurde schliesslich international zum Soundtrack der Arbeiterinnen und Arbeiter und wird bis heute oft an Parteitagen der britischen Labour Party gesungen.


«Last Christmas» Doch kein Osterlied

Wussten Sie, dass «Last Christmas» von Wham! ursprünglich als Ostersong gedacht war? Laut Gerüchten suchte die damalige Plattenfirma der Band für 1984 kurzfristig einen Weihnachtssong. Frontmann George Michael hatte ein Lied namens «Last Easter» in der Schublade liegen, das er spontan zu «Last Christmas» umtex­tete. Dass sein Osterlied einmal zu einem der bekanntesten Weihnachts­lieder überhaupt werden würde, hat er damals wohl nicht erwartet.

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