Gewalt und Mord an Frauen:

«Die guten Jungs des Patriarchats»

Oliver Fahrni

GENUG! In Italien gehen die Frauen auf die Strasse und wehren sich gegen die vorherrschende Unterdrückungskultur. (Foto: Keystone)

Ihr Kampfruf heisst: «Keine Einzige mehr!» Die Italienerinnen haben genug. Seit der Ermordung der Studentin Giulia Cecchettin (22) durch ihren Ex-Freund im norditalienischen ­Padua mischen sie das Land mit einer nie gekannten Mobilisierung auf. In kürzester Zeit haben sie die Gewalt gegen Frauen zu einem Thema gemacht, das die neofaschistische Regierung von Giorgia Meloni in Bedrängnis bringt.

Giulia war am 11. November verschwunden. Ihr Ex hatte sie verfolgt und niedergestochen, die Leiche auf der Flucht bei Venedig in einen Graben geworfen. Sie wurde erst nach einer Woche entdeckt, der Ex-Freund auf einer ostdeutschen Autobahn gefasst.

KEIN MONSTER. Die Tat trieb in Padua spontan 15 000 Menschen auf die Strasse. Kurz darauf demonstrierten in Rom schon mehr als 500 000 Frauen. Es war offiziell Feminizid Nummer 106 in diesem Jahr. Seither wurden fünf weitere Frauen von Nahestehenden gemeuchelt. Diese Gewalt ist banalisiert, sie wird von der Gesellschaft meist als «Ausraster» ­hingenommen (und fast immer suggeriert dies auch eine Schuld des Opfers). Warum hat die Tötung Giulias diese Mauer der Duldung nun durchbrochen?

Ihre Beerdigung wurde landesweit direkt übertragen. Politiker und Minister waren da, der Bischof zelebrierte. Vater Gino Cecchettin sprach: «Ich richte mich zuerst an die Männer, weil wir die ersten sind, die zeigen müssen, dass wir diese Geschlechtergewalt nicht mehr wollen.» Das war wie ein Echo auf Giulias ältere Schwester Elena. Sie gibt den Ton der Mobilisierung an: «Der Täter ist kein Monster. Monster sind Ausnahmen, für Monster muss die Gesellschaft keine Verantwortung tragen. Doch diese Täter sind die normalen Kinder, die ‹guten Jungs› des Patriarchats, der Kultur der Vergewaltigung.»

Sofort ergoss sich der brüllende Hass von Facebook-Männern und rechten Politikern aus dem Umfeld Melonis über die trauernde Schwester. Doch die Zungen lösen sich. Allein in Padua haben in wenigen Tagen 86 Frauen wegen erlittener Gewalt um Hilfe gerufen. Meloni, die oberste Patriarchin, steht unter Druck. Sie hängt einem konservativen Frauen- und Familienbild an, möchte die Italiene­rinnen massenweise gebären ­lassen. Im Frühjahr hat sie ein internationales Abkommen zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen nicht ratifiziert. Den Mord an Giulia verurteilte sie. Und fühlte sich genötigt, ein Präventionsprogramm in den Schulen aufzulegen. Zum Verantwortlichen ernannte sie einen Psychologen, der sich mit der Aussage einen Namen gemacht hatte, Geschlechtergewalt existiere nicht.

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