Als junge Frau bot Yvonne Paccaud (97) unanständigen Chefs Paroli

Die Nicht-Madame

Christian Egg

Als die AHV noch jung war, arbeitete Yvonne Paccaud für den Gewerkschaftsbund. 73 Jahre später treibt sie die Sorge um dieses Sozialwerk an ihre erste Demo nach Bern. Und die Neugierde: Wie sieht ihr Büro heute aus? Und wer ­arbeitet darin?

RÜSTIG: Yvonne Paccaud hat im Alter von 97 Jahren ihre erste Demo besucht – für ihre Rechte gekämpft hat sie allerdings schon früher. (Foto: Isabelle Haklar)

«Also die Bäume, die standen damals noch nicht hier!» Die 97jährige Yvonne Paccaud steht an der Berner Monbijoustrasse, vor dem Haus Nummer 61. Ein Rollator hilft ihr beim Gehen, ihr Sohn Yves begleitet sie, denn ihre Augen sind nicht mehr die besten. Aber wie es hier aussah damals, das weiss sie noch genau.

Dabei ist es fast ein Dreivierteljahrhundert her, seit sie das letzte Mal hier war: Von 1949 bis 1950 hatte sie eine Stelle beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) als Übersetzerin und Sekretärin. Jetzt will sie wissen: Wie sieht es heute aus, ihr Büro von damals? Und wer arbeitet jetzt darin?

Angereist ist sie aus Morges VD, denn nach dem Job beim SGB heiratete sie einen Waadtländer und lebt seither in der Westschweiz. Geboren und aufgewachsen ist sie aber hier in Bern. Ihre Mutter arbeitete als Schneiderin, ihr Vater im Institut für Geistiges Eigentum – «eine Zeitlang», so Paccaud, «im gleichen Büro wie Albert Einstein».

Zeitsprung in die Jugend von Yvonne Paccaud: Sie ist eine gute Schülerin und würde gern studieren, am liebsten Gesang. «Aber meine Eltern hatten kein Geld für die Studiengebühren. Fürs Konsi schon gar nicht, das war nur etwas für Reiche.» Also macht sie eine Handelslehre – und zieht dann nach Genf. Es habe sie gereizt, woanders zu leben, sagt sie. Und sie habe immer gern Französisch gesprochen. Mehr noch: «Es hat mich interessiert, bilingue zu werden.» Das ist ihr gelungen. Im Gespräch wechselt sie mühelos von Hochdeutsch über Französisch zu Bärndüütsch.

In Genf gerät sie allerdings gleich zweimal an schlechte Chefs. Zuerst bei der Organisation ORT, die Berufsausbildungen für jüdische Geflüchtete durchführt. Die ständig verrauchte Luft im Büro macht sie krank. Auf Anraten des Arztes kündigt sie – doch die Organisation will ihr den ausstehenden Lohn nicht zahlen.

«Die Erfahrung, dass ich mich wehren kann − das hat mir gut getan.»

ALS JUNGE FRAU VOR GERICHT

Was tun? Paccaud, gerade mal 23 Jahre alt, die Eltern weit weg, lässt sich nicht beirren. Sie klagt vor Arbeitsgericht und bekommt recht. Rückblickend sagt sie: «Die Erfahrung, dass ich mich wehren kann, als junger Mensch und als Frau – das hat mir gutgetan.»

Der nächste Chef, bei einem Verlag, betatscht die Mitarbeiterinnen. «Nicht mit mir, habe ich dem gesagt. Und wieder gekündigt.»

Ihr Sohn Yves, 69, pensionierter Lehrer und Waadtländer SP-Grossrat, schmunzelt. Das sei typisch für seine Mutter, sagt er: «Sie ist immer freundlich, manchmal wirkt sie fast zerbrechlich – aber sie hat keine Angst. Vor niemandem!» In Morges sei er einmal dabei gewesen, als seine Mutter auf der Strasse eine Freundin getroffen und mit ihr zu plaudern angefangen habe. Zum Ärger deren Mannes: «Er drängte seine Frau, weiterzugehen. Da sagt Maman zu ihm: ‹Hör zu, wenn’s dir nicht passt, geh einen Kaffee trinken und lass uns hier in Frieden.›»

IN JUNGEN JAHREN: Yvonne Paccaud (rechts) mit ihrer Schwester Marie-Louise. (Foto: ZVG)

«FANG GAR NICHT AN MIT MADAME»

Kaffee und Stückli vom Beck gibt’s jetzt auch für Yvonne Paccaud im SGB-Sekretariat an der Mon­bijoustrasse. Die Mitarbeiterinnen der Administration haben den Besuch erwartet – und staunen, wie fit ihre Vorgängerin ist. Auch Daniel Lampart, Chefökonom und Sekretariatsleiter, begrüsst Paccaud und scherzt: «Als ehemalige Mitarbeiterin hast du das lebenslange Recht, an unserer Kaffeepause um 10 Uhr morgens teilzunehmen.»

Die Idee für Paccauds Besuch beim SGB hatte Thomas Zimmermann, Leiter der Administration. Er traf sie am 25. September an der AHV-Demo der Seniorinnen und Senioren – und erfuhr, dass sie die Anfänge der AHV auf dem SGB-Sekretariat miterlebt habe. Die Korrespondenz, die sie erledigte, habe oft von dem damals ganz neuen Sozialwerk gehandelt, erinnert sie sich: «Das war spannend. Und es war schön, an einer wichtigen Sache mitzuarbeiten.»

Heute entfernt sich die AHV immer weiter von ihrem Auftrag, wie er in der Verfassung steht: die Existenz im Alter zu sichern. Paccaud sagt, ihr selber fehle es zwar an nichts, denn zusätzlich zur AHV erhalte sie eine Rente von der Pensionskasse ihres verstorbenen Mannes: «Ich bin privilegiert. Aber wer nur die AHV hat, lebt nicht gut.»

Deshalb begleitete sie ihren Sohn an die Demo. Auch aus Neugier. In 97 Lebensjahren hat sie viel erlebt, doch an einer Demo war sie noch nie. Als Waadtländerin will sie natürlich ein paar Worte mit SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard wechseln. Und beweist einmal mehr «Esprit», wie Sohn Yves berichtet: «Er begrüsste sie mit ‹Bonjour, Madame› und wollte sie etwas fragen. Doch sie unterbrach ihn: Pierre-Yves, wir werden uns am Schluss sowieso duzen. Also fang bitte gar nicht an mit Madame.»

«DAS HIER WAR ES»

An der Monbijoustrasse wollen jetzt alle wissen: Welches war dein Büro, Yvonne? Das Haus wurde seither mehrmals umgebaut. Aber sie weiss noch: Es war auf der rechten Seite des Korridors und ziemlich klein. Thomas Zimmermann steht auf. «Komm, wir schauen mal.» Er geht mit ihr den Gang entlang, öffnet jede Tür. Am Ende ist Paccaud nicht ganz sicher. Auf dem Rückweg bleibt sie vor einer offenen Tür stehen. Ein Pult mit Computer, ein alter Einbauschrank. Es ist das kleinste Büro auf der rechten Seite. «Ich glaube, das hier war es», sagt sie. Thomas Zimmermann lacht und sagt: «Heute ist es das Büro von Pierre-Yves Maillard.»

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