Als ob es weder einen Bauboom noch den Fachkräftemangel gäbe

Jetzt wollen die Baumeister die Reallöhne senken!

Jonas Komposch

Null Franken generelle Lohnerhöhung und nicht einmal den Teuerungsausgleich: So lautet die Ansage des Baumeister-Verbands an die Büezer. Ganz andere Standards gelten bei Deals mit Bauherren.

SIE KÖNNEN STRASSE: 15 000 Bauleute demonstrierten 2022 in Zürich für mehr Lohn. Nur ein Jahr später werden die Büezer von den Spitzen der Baumeister wieder hängengelassen. (Foto: Lucas Dubuis)

Chris Kelley ist noch immer stinksauer. Der Unia-Co-Leiter des Bausektors musste am 25.  Oktober mitansehen, wie die Spitzen des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV) einseitig die diesjährigen Lohnverhandlungen abgebrochen und den Verhandlungstisch verlassen haben. Und dies nach nur gerade drei Verhandlungsrunden. Nicht einmal ein Angebot hätten die SBV-Kader den Gewerkschaften unterbreitet. «Das ist unverständlich, verantwortungslos und brandgefährlich!» sagt Kelley und verweist auf die Teuerung. Tatsächlich steigen Preise, Mieten, aber auch Krankenkassenprämien stark und ungebremst. Eine Lohn-Nullrunde bedeutet für die Bauarbeiter daher nichts anderes als eine Reallohnsenkung. Schon wieder!

Die Inflation hat den Zuschuss vom letzen Jahr weggefressen.

LUSCHE DOPPELSTANDARDS

So haben die Bauleute mit ihrer letztjährigen Protestwelle zwar eine stolze generelle Lohnerhöhung von 150 Franken erkämpft. Doch die Inflation hat auch diesen Zuschuss bei den meisten Lohnkategorien glatt weggefressen. Die SBV-Spitze scheint das wenig zu kümmern. Sie empfiehlt den Firmen lediglich, die Löhne «individuell» anzuheben. Doch mit Empfehlungen lassen sich bekanntlich keine Rechnungen bezahlen. Das weiss auch der SBV, dessen Mitgliedsfirmen die Preissteigerungen schliesslich ebenfalls spüren. Ihnen rät der SBV deshalb im Umgang mit Bauherren «dringend»: «Grundsätzlich sollten keine Werkverträge ohne Teuerungsvergütung abgeschlossen werden.» Heisst: Selbst beansprucht man ebenjenen Teuerungsausgleich, den man den Arbeitenden verweigert. Es sind solche Doppelstandards, die Kelley zur Weissglut treiben. Er sagt: «Es ist nichts als korrekt, wenn die Firmen von den Auftraggebern die Teuerungsdifferenz einfordern. Aber gleichzeitig den Belegschaften Kaufkraftverluste zumuten? Das ist nur noch respektlos!»

SBV AUF EGO-TRIP

Und noch etwas ruft Kelley in Erinnerung: «Immer weniger Bauarbeiter leisten immer mehr, und der Termindruck nimmt zu. Gleichzeitig gab es in den letzten zehn Jahren nur dreimal eine Lohnerhöhung für alle.» Dabei seien generelle Lohnerhöhungen wirtschaftlich nicht nur nötig, sondern auch möglich. Das stellten aktuell etliche Branchen unter Beweis. Kelley: «Wirft man beispielsweise einen Blick auf die Verhandlungen im Ausbaugewerbe, zeigt sich: In praktisch allen Berufszweigen ist eine ge­nerelle Lohnerhöhung vorgesehen – zum Teil deutlich über der Teuerung.» Bezeichnend ist die Haltung der SBV-Spitze auch angesichts der Baukonjunktur.

SPITZENWERTE IM HOCHBAU

So schreibt das Fachmagazin «Baublatt» zum dritten Jahresquartal: «Die geplante Hochbausumme kann sowohl im Vergleich zum Vor­jahresquartal als auch zum Vorquartal hohe Zuwächse ausweisen.» In der Zehnjahresbetrachtung sei die geplante Summe des Hochbaus sogar auf einen «neuen Spitzenwert» ­gestiegen. Der Wohnbau gewinne weiter an ­Dynamik. Ausserordentlich zulegen könne ­besonders das Segment Mehrfamilienhäuser. Und: «Trotz schwächelnder Konjunktur investieren Industrie- und Gewerbebetriebe in den Ausbau des Gebäudeparks. Hohe Investitionen sind auch in die Gebäudeinfrastruktur des Bildungswesens vorgesehen.» Solide Aussichten also. Und schon die jüngere Vergangenheit erwies sich als lukrativ. So stellte die Konjunk­turforschungsstelle der ETH Mitte August steigende Nominalinvestitionen fest. Aber nicht nur: «Erstmals seit dem ersten Quartal 2022 stiegen Anfang 2023 die Bauinvestitionen auch real wieder, also abgesehen von der Zunah­­me, die durch die Baupreisteuerung bedingt ist.» Die Grundlage für eine faire Lohnentwicklung wäre also da. Und wer weiss, vielleicht bringt die SBV-Basis ihre Verbandsspitze ja noch zur Vernunft. An der Delegiertenversammlung vom 9. und 10. November böte sich hierfür Gelegenheit.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.