Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas:

«Plötzlich kann Armut auch Normalverdienende treffen»

Darija Knežević

Mit der hohen Teuerung rutschen immer mehr Menschen in die Armut. Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas, kennt die Ursachen.

Aline Masé. (Foto: ZVG)

work: Aline Masé, Sie setzen sich täglich mit Armut auseinander. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Haben wir überhaupt ein Problem mit Armut?

Aline Masé: Definitiv, in der Schweiz sind viele Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Das sieht man konkret auch am Kundenaufkommen in unseren Caritas-Märkten. Im ersten Halbjahr 2023 wurden rund 14 Prozent mehr Einkäufe in unseren Märkten getätigt als in derselben Periode im Jahr 2022. Armut ist in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabu­the­ma und mit vielen Vorurteilen verbunden. Deshalb bleibt Armut oft versteckt und das Ausmass nicht sichtbar.

Im Caritas-Markt kaufen besonders viele Pensionierte ein. Ist Armut ein Altersproblem?

Nein, Armut ist nicht direkt ein Altersproblem. Armut im Alter ist meistens eine Folge ­davon, was während des Erwerbslebens passiert: Tiefe Einkommen über längere Zeit, eine Scheidung oder Krankheit können kurz- und langfristig zu finanziell schwierigen Situa­tionen führen. Leider bedeutet auch eine Familiengründung oft ein Armutsrisiko. ­Familienexterne Kinderbetreuung ist für viele Eltern zu teuer, folglich reduziert ein ­Elternteil – meist die Mutter – das Erwerbspensum zugunsten der Kinderbetreuung deutlich, was wiederum ein tieferes Einkommen bedeutet. Im Alter rächt sich das: Wer ein Leben lang Teilzeit oder für ­einen tiefen Lohn gearbeitet hat, erhält keine oder nur eine kleine BVG-Rente. Und die AHV ist nicht existenzsichernd.

«Armut bleibt oft versteckt, ihr Ausmass unsichtbar.»

Gegen diese Armutsrisiken kann man politisch etwas unternehmen.

Korrekt. Man muss in anständige Löhne und Arbeitsbedingungen, Bildung und Kinderbetreuung investieren, um ­Armut in der Schweiz so effektiv wie möglich vorzubeugen. Würde man zum Beispiel Familien besser mit bezahlbaren Kita-Plätzen oder familienfreundlichen Arbeitsmodellen unterstützen, könnte man viele Betroffene und besonders auch die Kinder vor Armut schützen. Gerade für Working Poor ist eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit zentral. Die aktuellsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik sprechen von fast 280 000 Personen, die zwar erwerbstätig sind, aber dennoch von Armut bedroht. Und von diesen Personen sind weitere Menschen finanziell abhängig. Seien es Kinder, Partner oder Eltern. Im Jahr 2021 lebten laut Statistik fast 650 000 Personen in einem Working-Poor-Haushalt.

Welche Rolle spielt die aktuelle Teuerung?

Wegen der steigenden Lebenshaltungskosten trifft die Armut neue Bevölkerungsgruppen. Dort, wo das Geld bisher knapp gereicht hat, reicht es heute nicht mehr aus. Wie schnell man in finanzielle Nöte kommen kann, hat uns in der jüngsten Vergangenheit die Corona-Pandemie gezeigt. Plötzlich kann Armut auch Normalverdienende treffen. Davon sind wir nicht mehr weit entfernt, wenn die Mieten, Krankenkassenprämien und Energiekosten weiter so stark steigen.

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