Gewerkschaften haben in den USA nicht nur in den Häfen und in Hollywood Aufwind

Jetzt rollt die Auto-Streikwelle

Oliver Fahrni

Der historische Streik in der Autoindustrie steht für die Renaissance der US-Gewerkschafts­bewegung. Sie wird von einer un­geduldigen Basis angetrieben.

«Ohne Gerechtigkeit keine Jeeps»: Der Vertrag lief aus – und pünktlich ab Mitternacht streikten die Büezerinnen und Büezer der «Grossen 3», General Motors, Ford und Stellantis. (Foto: Keystone)

Das Gespenst, das gerade etliche US-Kapitalisten an den Rand einer Nervenkrise treibt, hat einen Namen: Shawn Fain. Er ist 54, gelernter Autoelektriker, bekennender Christ und seit März Präsident der Gewerkschaft UAW, der Arbeitenden in der Autoindustrie. Fain sagt Sätze wie: «Wir haben die Nase voll, uns bei der Arbeit den Rücken zu brechen und uns von Lohncheck zu Lohncheck durchzuwursteln, während sich die Konzerneliten und die Milliardärsklasse weiterhin wie Banditen bereichern.» Oder: «Steht auf! Seid bereit, für euch einzustehen, gegen die Gier der Unternehmen und die Lügen des Managements!»

«Dumm, fett und glücklich» − damit ist’s definitiv vorbei.

KEIN FALSCHES HÄNDESCHÜTTELN

Früher begannen Verhandlungen in der US-Autoindustrie mit einem Fototermin, bei dem die Konzernbosse dem UAW-Chef grinsend die Hand schüttelten. Dann ging es hinter verschlossenen ­Türen weiter, und am Ende standen Lohnverzicht, 6-Tage-Woche, extrem verschärfte Arbeitskadenzen. Und Präsenzarbeit während der Covid-Epidemie. Die Manager verstanden es, die obersten Gewerkschafter mit Zuwendungen milde zu stimmen. «Hauptsache, sie sind dumm, fett und glücklich» war ein geflügeltes Wort in den Chefetagen. Zwei frühere UAW-Chefs brachte die ungetreue Geschäftsführung ins Gefängnis.

Doch Fain verweigerte den foto­genen Handshake. Stattdessen stellte er «kühne Forderungen»: automatischen Teuerungsausgleich, 40 Prozent Lohnerhöhungen, Abschaffung der Lohnstaffelung, gesicherte Renten und die 32-Stunden-Woche, «unser Kampf für die Zukunft». Spielraum dafür bestünde. Die von Präsident Joe Biden massiv subentionierten «Grossen 3» (General Motors, Ford, Stellantis) schütteten seit der Krise 2009 satte 84,9 Milliarden Dollar an ihre Besitzenden aus – während die Reallöhne allein in den letzten 5 Jahren um 20 Prozent sanken und die Arbeitsbedingungen immer schlimmer wurden. Die kumulierten Profite 2021/22 waren rekordhoch – 72 Milliarden Dollar. Von den Abzockerlöhnen der Topmanager gar nicht zu reden.

Am 14. September lief der alte Vertrag aus, und um Mitternacht begann der Streik in ausgewählten Fabriken. Offenbar hatten die Manager die UAW unterschätzt. So reiste etwa Carlos Tavares, der CEO von Stellantis (Chrysler, Fiat, Peugeot, Citroën, Opel, Jeep, Maserati usw.) erst gar nicht aus Paris an, sein Nordamerika-Chef verhandelte mittels Video­call vom Badeort Acapulco aus. «Ohne Gerechtigkeit keine Jeeps» antworteten die Büezerinnen und Büezer der Stellantis-Montage in Toledo, Ohio, und stellten die Fliessbänder ab.

Vorsorglich hatte sich die UAW ein Streikmandat eingeholt: 97 Prozent der 146 000 Beschäftigten der drei Konzerne stimmten dafür, die Arbeit ruhen zu lassen. Das war historisch: Noch nie wurden die «Grossen 3», das alte Herz des Industriekapitalismus, gleichzeitig bestreikt.

ERFOLG IN HOLLYWOOD

Es ist der vorläufige Höhepunkt eines «heissen Sommers der Arbeit». Die US-Arbeitenden recken ihr Haupt. Nach den Arbeitskämpfen bei den Eisenbahnen, in den Häfen, in der Pflege und in Hollywood genügte ein angedeuteter Ausstand der «Teamsters» bei UPS, um dem Paketkonzern Konzessionen abzuringen. Am 24. September brachen auch Traumfabriken von Warner, Universal, Disney, Netflix ein: Der Streik, der am 6. Mai begonnen hatte, brachte den Autorinnen und Autoren die geforderte Beschränkung des Einsatzes von künstlicher Intelligenz, die ihre Jobs gefährdet. Eine globale Premiere.

In fast allen dieser Bewegungen treibt die Basis die Gewerkschaften vor sich her. Sie hat in Konzernen wie Starbucks, Amazon, Apple oder Microsoft überhaupt erst die Gründung von Syndikaten durchgesetzt. Das zwingt die Gewerkschaften zu neuen Praktiken.

DIE BASIS MACHT DRUCK

Shawn Fain, der erste frei gewählte Präsident, ist in der UAW keine Einzelmaske, sondern das Produkt einer organisierten Opposition (UAW Members United), die in jahrelangem Ringen die Gewerkschaft demokratisiert hat.

Nun ist Fain per Facebook im Dauergespräch mit den Mitgliedern und jeden Tag auf den Streik-Piketts. Doch was auch immer der UAW-Chef plant, freie Hand hat er nicht. Diverse lokale Sektionen der Gewerkschaft fordern, den Streik, der bisher nur 15 000 Beschäftigte mobilisierte, auf sämtliche Betriebe auszudehnen.

Inzwischen liegt die Zustimmung der US-Bevölkerung zu den Gewerkschaften so hoch wie seit 1965 nicht mehr. Kein Wunder, reagieren viele US-Kapitalisten nervös. Nicht auszudenken, meinte einer im «Wall Street Journal», wenn die Auto-Büezerinnen und -Büezer gewännen. Das versuchen die Konzerne mit allen Mitteln zu verhindern: mit antigewerkschaftlichen Entlassungen, Drohungen und eingeflogenen Streikbrechern. Und was macht der US-Präsident? Joe Biden drängt Fain zu einem Kompromiss. So hatte er schon den Eisenbahnerstreik abgewürgt.

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