Jean Ziegler ‒ la suisse existe

In memoriam Salvador Allende

Jean Ziegler

Jean Ziegler

Es war der 11. September 1973. Fünfzig Jahre sind es her. Die «Moneda» stand in Flammen, der Präsidentschaftspalast mitten in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Bewaffnet mit einer Maschinen­pistole, unterstützt von ein paar Dutzend ebenfalls bewaffneten Jungsozialisten und Gewerkschaftern, widerstand Salvador Allende immer noch.

Um 14 Uhr 30 ertönte dann zum letzten Mal seine Stimme. Dank dem Gewerkschaftssender Cooperación, der in wundersamer Weise noch nicht von der Luftwaffe zerstört worden war.
Die klare Stimme aus der brennenden «Moneda» sagte: «Trabajadores de mi pueblo… Ich werde nicht aufgeben, und ich werde nicht zurücktreten. In diesem Augenblick weiss ich, dass ich die Treue meines Volkes mit dem Leben bezahlen muss.» Die Rede ist in die Weltgeschichte eingegangen. Mitte Nachmittag war Allende tot.

FOLTER. Es folgte eine fürchterliche, blutige Menschenjagd in ganz Chile und eine Repression, die während der ganzen Zeit der Militärdiktatur bis 1990 dauerte. Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter, Gewerkschafter, Studentinnen, Sozialisten, Christdemokratinnen starben unter der Folter, fielen den Erschiessungskommandos zum Opfer, wurden lebend aus Flugzeugen in den Pazifik geworfen.

Salvador Allende, Kinderarzt aus Valparaiso, kandidierte 1970 für die Präsidentschaft als Vertreter der Unidad Popular, einer Allianz der Linksparteien und Gewerkschaften. Er erhielt am meisten Stimmen und wurde im November verfassungsgemäss vom Kongress als Präsident vereidigt.

STILLES VIETNAM. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Im Januar 1971 war ich Mitglied der Delegation des Exekutivrates der Sozialistischen Internationale, geführt vom öster­reichischen Sozialdemokraten Bruno Kreisky. Allende empfing uns in seinem kleinen Haus im Quartier Tomás Moro. Die letzten Sonnenstrahlen leuchteten hinter der Bergkette der Anden. Allende sass in einem hohen kolonialen Lehnstuhl, sein Hund zu seinen Füssen. Plötzlich unterbrach er seine kluge Analyse und brachte die Situation in Chile auf den Punkt: «Wir erleben ein stilles Vietnam.»

Gleich nach dem Sieg der Unidad Popular ­organisierte der damalige US-Aussenminister Henry Kissinger das «Komitee der Vierzig»: einen Verbund der vierzig wichtigsten in Chile tätigen multi­nationalen Konzerne. Das Komitee veranlasste die wirtschaftliche und finanzielle Blockade und Sabotage Chiles. Es war die Zeit des Kalten Krieges. US-Präsident Richard Nixon und Kissinger waren überzeugt, Chile sei ein neues Kuba.

SALVADOR ALLENDE. 1908 bis 1973. (Foto: Keystone)

SABOTAGE. Die schweizerische Oligarchie, welcher der unterwürfige Bundesrat folgte, schloss sich dem Komitee der Vierzig an. Ein Beispiel: Allende hatte ein Programm gegen den Hunger auf die Beine gestellt. Denn die Unter­ernährung vieler Hunderttausender chilenischer Kinder war Allendes Trauma. Sein Programm versprach einen halben Liter Milch pro Tag für die hungernden Kinder. Die Nestlé-Tochter ­Chiprodal kontrollierte 80 Prozent der Milchproduktion. Nestlé-Präsident Jean-Constant Corthésy, ein Waadtländer Reaktionär übelster Sorte, verweigerte jede Kooperation. Er zwang Allende, mit teuren ­Devisen Milch in Argentinien zu kaufen.

Ein anderes Beispiel: Chile war und ist der grösste Kupferproduzent der Welt. In den drei grössten staatlichen Kupferminen – El Teniente, El Salvador und Chuquicamata – organisierte US-Aussenminister Kissinger einen Generalstreik der meist ausländischen Ingenieure und ­Techniker.

Chile hat eine Länge von über 4000 Kilometern. Praktisch alle Güter werden mit Lastwagen transportiert. Kissinger organisierte Massenstreiks von 6 und 7 Wochen. Lebensmittel im Wert von Dutzenden Millionen US-Dollar ver­rotteten, Industriegüter und Ersatzteile wurden nicht mehr geliefert. Die Lastwagenchauffeure wurden durch die Überweisung eines Taggeldes entlöhnt, von einer chilenischen Bank am Quai des Bergues in Genf.

FINSTER. Am 11. September 1973 suchten – und erhielten – viele Verfolgte in den lateinamerikanischen und europäischen Botschaften Zuflucht. Nicht aber in der Schweizer Botschaft. Der finstere Botschafter Charles Masset lieferte die Verfolgten systematisch den Häschern (und Mördern) aus.
Der Bundesrat sandte kein Beileidstelegramm an Allendes Witwe Hortensia und kein Kondolenzschreiben an die chilenische Botschaft in Bern, wie das beim Tod eines Staatschefs üblich ist. Er verordnete eine Visumspflicht für Chileninnen und Chilenen mit dem gebräuchlichen Argument: «Das Boot ist voll».

Die Reaktion der linken sozialistischen und demokratischen Bewegungen in der Schweiz war hingegen exemplarisch. Aussenminister Pierre Graber (SP) musste den üblen Masset abberufen. Ein katholischer Priester, Cornelius Koch, und der protestantische Pfarrer Guido Rivoir riefen die Aktion «Freiplatz Chile» ins Leben. Tausende Familien zeigten sich bereit, Asylsuchende aufzunehmen. Die Unidad Popular ist ein lebendiges Geschichtsbuch. Sie bleibt für uns alle eine Quelle der Hoffnung.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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