Unia-Industriechef Yves Defferrard (57) über Trophäen, Teuerung und tatenlose Politik

«Es braucht eine Industrieministerin!»

Iwan Schauwecker

Für Yves Defferrard ist klar: die Industrie-Patrons haben eine Chance verpasst, die Branche für Fachleute attraktiver zu machen. Im grossen work-Interview erklärt der Unia-Industriechef, wie es dazu kam.

ANGRIFFE ABGEWEHRT: Die von den Chefs geplante Arbeitszeitverlängerung konnten Yves Defferrard und seine Kolleginnen und Kollegen verhindern. (Foto: Marco Zanoni)

work: Hatten Sie schöne Ferien?

Yves Defferrard: Ja, sehr, ich habe mit meiner Partnerin einen Roadtrip durch Deutschland, Polen und die Slowakei gemacht. In Polen lernten wir viel über die Gewerkschaft Solidarność, die in Polen in den 1980er Jahren für die Demokratie gekämpft hat. Ich konnte aber auch gut von der Arbeit abschalten.

Vor den Ferien haben Sie mit den Industriechefs die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrages der Maschinen-, Elektro- und Metall­industrie (MEM-GAV) verhandelt. Das Resultat: Der bestehende Vertrag wird verlängert, doch ohne Verbesserungen für die Arbeitenden.

Das stimmt leider. Mit einem Vertrag, der keinerlei Fortschritte bringt, können wir nicht zufrieden sein. Und doch haben die Unia-Delegierten der Branche der Verlängerung des bestehenden Vertrages im Juni einstimmig zugestimmt. Das zeigt, dass wir in der gegenwärtigen Situation das Richtige für die Arbeiterinnen und Arbeiter erreicht haben.

«Die angeblich katastrophale Lage der Industriebetriebe ist eine alte Leier.»

Was bedeutet «das Richtige»?

Zentral war, dass wir die Erhöhung der Arbeitszeit auf 42 Stunden pro Woche verhindern konnten. Denn Swissmem wollte dies in den Verhandlungen unbedingt erreichen. Das wäre für den Swissmem-Direktor und Zürcher FDP-Mann Stefan Brupbacher eine persönliche Trophäe gewesen. Auch die automatische Anpassung der Mindestlöhne an die Teuerung konnten wir verteidigen. Ein wichtiger Punkt, auch für Lohnverhandlungen in anderen Branchen.

Was gibt es ausserdem Positives aus den Verhandlungen zu berichten?

Wir haben die Mitglieder in den Betrieben einbezogen und unsere Verhandlungsziele nach ihren Bedürfnissen gerichtet, das ist mir besonders wichtig. Was auch erfreulich ist: Wir konnten als Arbeitnehmendenorganisationen (Unia, Syna, KV, Angestellte Schweiz Anm. der Red.) gemeinsam auftreten und auch die Verhandlungen gemeinsam führen.

Warum war diese gemeinsame Position dennoch nicht überzeugender?

In Zeiten des Personalmangels müsste ein fortschrittlicher GAV eigentlich auch im Interesse der Firmen und ihrer Chefinnen und Chefs sein. Aber Swissmem wollte von dem gar nichts wissen und hat immer wieder die angeblich «katastrophale Lage» für die Industriebetriebe in der Schweiz betont. Es ist eine alte Leier und eine verpasste Chance. Schade!

Die Industrie wäre auch ein Schlüssel für die Energiewende. War das auch ein Thema?

Ja, wir hatten auch mehrere Forderungen in diesem Bereich. Leider gab es auch hier keinen Gestaltungswillen von Swissmem. Die Schweizer Regierung und auch die Kantone müssen die Industrie unterstützen bei der ökosozialen Transformation. Die Schweiz hätte Potential: Wir könnten Solarpanels, Windräder und vieles mehr in der Schweiz herstellen. Wir haben die Technik, wir haben die Forschung, und wir können Projekte umsetzen. Doch bei der Politik und in der industriellen Fertigung gibt es grosse Leerstellen und kaum eine ökosoziale Ausrichtung. Es wurden viele Leute entlassen, und jetzt fehlen die qualifizierten Mitarbeitenden. In der Schweiz haben wir zwar einen Wirtschaftsminister, aber einen Industrieminister oder eine -ministerin gibt es nicht. Das bräuchten wir aber. Denn wer keine Industriepolitik betreibt, macht einfach nur Industriepolitik für die Konzerne.

In letzter Zeit haben die Industrie-Büezerinnen und -Büezer wichtige Arbeitskämpfe geführt …

Ja, zum Beispiel bei der British American Tobacco (BAT). Diese hatte Ende 2022 die Schliessung der Parisienne-Zigarettenfabrik in Boncourt im Jura angekündigt. Ich war dort während mehr als eines Monats vor Ort und habe an der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter gekämpft. Am Anfang der Verhandlungen hatten wir dort drei Mitglieder, am Ende über hundert! Wir konnten zwar die Schliessung des Werks nicht verhindern, aber dafür einen Sozialplan erstreiten, der diesen Namen auch verdient.

Wo konnte die Industriebranche sonst noch neue Mitglieder gewinnen?

Bei den Grosswäschereien in der Romandie etwa. Wir führen Verhandlungen für kollektive Arbeitsverträge und offerieren den oft sehr schlecht bezahlten Arbeiterinnen Sprachkurse. Das hat auch zum erfolgreichen Frauenstreik beigetragen. Ein anderes Beispiel ist die Lonza, das Chemieunternehmen mit dem stark wachsenden Produktionsstandort in Visp. Dort konnten wir bei den Verhandlungen für den Kollektivarbeitsvertrag, der für etwa 1500 Arbeitende gilt, zahlreiche neue Mitglieder gewinnen. Oder bei Mondelez, wo wir in der Toblerone-Fabrik in Bern mit einer kämpferischen Belegschaft in die Lohnverhandlungen eingestiegen sind. Wir haben gezeigt, dass wir in der Industrie wachsen können. Das war über viele Jahre nicht mehr der Fall und ist ein sehr positives Zeichen.

MEM-GAV: Das steht drin

Der bestehende Gesamtarbeitsvertrag der ­Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-GAV) wird um fünf Jahre verlängert und gilt neu bis Juni 2028.

40-STUNDEN-WOCHE. Der GAV enthält eine auto­matische Anpassung der Mindestlöhne an die ­Teuerung, die 40-Stunden-Woche, mindestens fünf Wochen Ferien, einen 13. Monatslohn sowie ­Mitwirkungsrechte für die Personalkommissionen. Der GAV regelt die Arbeitsverhältnisse für etwa 100’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in rund 530 Unternehmen und gehört damit zu den wichtigsten Verträgen in der Schweiz.

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