Frauenstreik-Bilanz 2019 bis 2023:

Der grosse Mutmacher

Jonas Komposch

Der Frauenstreik 2019 war die grösste Protestkundgebung in der Schweiz seit dem Landesstreik 1918. Doch was hat die Mega­bewegung gebracht?

Aude Spang ist keine Schönrednerin, sondern Unia-Gleichstellungssekretärin. In ihrer Frauenstreik-Bilanz ist sie deshalb fadegrad: «Auf institutioneller Ebene hat sich seit 2019 praktisch nichts verbessert.» Mehr noch: «Die Situation der Frauen wurde zum Teil verschlimmert!» Tatsächlich ist die Lohndiskriminierung zwischen 2018 und 2020 angestiegen. Das zeigen Zahlen des Bundes. Das Rentenalter wurde gegen den Willen der Frauen erhöht. Und auch das Versprechen, die berufliche Vorsorge zu verbessern, haben die Bürgerlichen gebrochen. Im Zuge der Pandemie wurden ausserdem viele Frauen zurück in «traditionelle» Rollen gedrängt.

Dennoch sieht Spang auch Fortschritte: «Der Streik hat einen Raum geschaffen, um die vielen Problematiken in die öffentliche Debatte zu tragen. Und er hat das feministische Bewusstsein in der Gesellschaft gestärkt. Vor dem Streik war ‹ Feministin› ja noch fast ein Schimpfwort!»

Eine weitere grosse Veränderung sieht Spang bei der Entschlossenheit: «Frauen lassen sich heute weniger gefallen und zeigen Gewalt und Diskriminierungen immer öfter an.» So sieht es auch Anna Meier, Pflegesekretärin bei der Unia Bern: «Gerade jüngere Frauen wurden durch den Streik politisiert und sensibilisiert. Allgemein sind Frauen heute wütender, lauter und sich ihrer Situation viel bewusster.» Auch die Bereitschaft, sich zu engagieren, habe deutlich zugenommen. Meier sagt: «Der Streik hat vielen Mut gemacht – auch mir.» Am unmittelbarsten aber zeigt sich der Wandel bei den Wahlen.

DER «FRAUENRUTSCH». Im Herbst 2019 gewannen so viele Frauen wie nie zuvor einen Sitz im Bundesparlament. Im Ständerat verdoppelte sich der Frauenanteil. Im Nationalrat gelang ein Sprung von 32 Prozent auf bisher ungekannte 42 Prozent. Und der Trend hält an, wie ein Blick auf die Kantonsregierungen zeigt. Dort kletterte der Frauenanteil von 24,7 Prozent im 2019 auf das Rekordniveau von aktuell 31,2 Prozent. Dass der Schub auf den Frauenstreik zurückgeht, beweist die Entwicklung in den Kantonsparlamenten. Dort stagnierte der Frauenanteil seit 1999 bei 25 Prozent. Erst mit dem Streik spülte es auf einen Schlag 100 zusätzliche Frauen in die Ratssäle. Und trotzdem: Die 50-Prozent-Marke ist noch nirgends geknackt. Und auch an den rechten Mehrheiten haben die Neugewählten wenig geändert. Ein bisschen vorwärts ging’s dennoch.

Seit 2019 sitzen im Bundesparlament so viele Frauen wie noch nie.

REFÖRMCHEN. Ein Jahr nach dem Frauenstreik sagten 60 Prozent der Stimmberechtigten Ja zum Vaterschaftsurlaub. Dieser wurde von SVP und FDP bekämpft, obwohl er die komplett rückständige Situation in der Kinder­betreuung nur leicht entschärft. Ein ebenfalls überfälliger Gleichstellungserfolg gelang 2021 mit der «Ehe für alle». Und letzten März einigte sich das Bundesparlament auf eine Revision des Sexualstrafrechts. Diese erleichtert es Vergewaltigungsopfern, juristisch gegen Täter vorzugehen. Zudem werden diese nicht mehr mit einfachen Geldbussen davonkommen, sondern können auch zu Kursen und Therapien gezwungen werden. Das alles ist gut, aber längst nicht genug.

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