«Hast du Nein gesagt?»: Pflichtlektüre für Mann und Frau

Warum sexualisierte Gewalt unsichtbar bleibt

Darija Knežević

In der Schweiz erlebt jede fünfte Frau sexualisierte Gewalt. Jetzt lässt ein neues Sachbuch Betroffene sprechen und nimmt Polizei, Justiz und Beratungsstellen unter die Lupe.

AUCH ICH! Junge Frauen demonstrieren gegen Diskriminierung und sexuelle Gewalt. (Foto: Keystone)

Unerwünschte Küsse und Berührungen, schlüpfrige oder ungewollte sexuelle Handlungen – mindestens jede fünfte Frau in der Schweiz hat solche Dinge schon erlebt. Die Belästigungen geschehen in der Freizeit, aber oft auch bei der Arbeit. Eine aktuelle Studie bringt Schockierendes ans Licht: 96 Prozent der Pflegerinnen erleben sexuelle Belästigung.

Doch gegen Grapscher und Gewalttäter wehren sich nur wenige. Aber warum? Dieser Frage gehen Miriam Suter und Natalia Widla in ihrem Sachbuch «Hast du Nein gesagt?» auf den Grund. Die beiden Journalistinnen sprachen hierfür mit Betroffenen, Polizistinnen und Polizisten, Opferberatungsstellen und Politikerinnen. Was die Leserschaft im Buch erwartet, steht bereits ermahnend im Vorwort. «Triggerwarnung: In diesem Buch wird sexualisierte Gewalt teilweise sehr explizit beschrieben.»

POLIZEI HALF NICHT

Das Buch beginnt mit der Geschichte von Lena*, die bei einer WG-Party sexuell missbraucht wurde. Dabei begann alles ganz harmlos: «Ich trank zwei Gläser Rum mit Cola, ich habe sie mir selbst gemischt. Diese Details waren später für die Polizei sehr wichtig.» Denn nach dem Übergriff kontaktierte Lena sofort die Polizei. Aber statt ihr zu helfen, zeigten die zwei Beamten kaum Empathie. Sie sagten: «Also wenn diese Männer jetzt weg sind, dann sind Sie ja nicht mehr in Gefahr und können nach Hause gehen. Wir gehen jetzt auch.» Und liessen sie rat- und sprachlos zurück. Doch die junge Frau liess sich nicht entmutigen und zeigte den Täter an. Vor Gericht kramte dessen Anwältin einen Missbrauch hervor, den Lena als Kind erlebt hatte. Damit wollte sie Lena unterstellen, bezüglich sexueller Gewalt «gar sensibel» zu sein. «Man kann sich das fast nicht vorstellen», sagt Lena, «was man als Opfer durchmachen muss.»

Im Anschluss an Lenas Geschichte nehmen die Autorinnen die Polizei unter die Lupe. Sie sprechen unter anderem mit dem Direktor einer Polizeischule und zwei Ex-Polizistinnen über den internen Umgang mit Opfern von sexueller Gewalt. Dabei fällt auf: Für Opfer ist es reine Glückssache, welche Behandlung sie erfahren – abhängig davon, wer bei der Polizei gerade Dienst hat.

ENTTÄUSCHENDES STRAFMASS

Jil* erlebte ebenfalls sexuelle Gewalt, obwohl sie ausdrücklich Nein gesagt hatte. Nach dem Vorfall holte sie sich Hilfe bei einer Opferberatungsstelle. Sie fühlte sich gut aufgehoben und schildert: «Ich hatte während der ganzen Zeit der Zusammenarbeit mit der Opferhilfe das Gefühl, dass ich nicht denken musste, wenn ich nicht wollte.» Aber auch hier gab es einen Haken: Jil musste drei Wochen lang auf einen ersten Beratungstermin warten.

Auch Jil zeigte ihren Täter an. Doch den Prozess schildert sie als reine Tortur. Und dann das Strafmass: Wegen Schändung und sexueller Belästigung bekam der Täter zehn Monate Gefängnisstrafe, allerdings nur bedingt auf zwei Jahre. Auch finanziell kam er gut davon: Bloss tausend Franken Busse und zweitausend Franken Genugtuung musste er leisten. Für Jil ein Schlag ins Gesicht, denn: «Ich kenne Menschen, die für unerlaubtes Plakatieren dasselbe Strafmass erhalten haben. Dieser verdammten Wand geht es doch nachher nicht schlechter als vorher, aber mein ganzes Leben hat sich verändert.»

Das Erlebnis von Jil runden die Buchautorinnen mit einem Blick in die Schweizer Opferberatungsstellen ab. Sie sprechen mit Beraterinnen über die Rechte von gewaltbetroffenen Personen. Denn in der Schweiz gilt das Opferhilfegesetz. Heisst: Wer Opfer einer Straftat wird, hat Anspruch auf unentgeltliche Hilfe, professionelle Beratung und finanzielle Unterstützung.

GESCHÄFTSPARTNER ALS VERGEWALTIGER

Mina* traf sich geschäftlich mit einem einflussreichen Mann aus ihrer Branche zu einem Drink. Romantisches oder sexuelles Interesse an ihm hatte sie nie. Minas Täter sah das anders und vergewaltigte sie noch am selben Abend. «Ich hatte solche Angst und dachte wirklich: Jetzt muss ich sterben», sagt sie. Mina wehrte sich heftig, doch das reichte nicht.

Nach der Tat war sie fest entschlossen, den Mann anzuzeigen. Doch am Polizeischalter folgte die Ernüchterung. Die Polizistin sagte: «Sind Sie sicher, dass Sie Anzeige erstatten wollen? Das bringt sowieso nichts.» Mina insistierte, zog die Anzeige aber kurz darauf zurück. Nicht wegen der kaltherzigen Polizistin, sondern wegen ihres Täters. Dieser rief an und bedrohte die junge Frau. Er würde ihre Karriere zerstören. «Und mehr noch, er komme zu mir nach Hause und werde mich ‹kaputtmachen›, wenn ich die Anklage weiterziehe.»

Tatsächlich ist die Anzeigeerstattung sehr selten. Laut einer Statistik von gfs.Bern werden nur acht Prozent aller Fälle angezeigt. Zur rechtlichen Lage äussert sich im Buch auch SP-Nationalrätin Tamara Funiciello. Sie setzt sich seit langem für eine faire Revision des Sexualstrafrechts ein. Funiciello sagt: «Eine sexistische Voreingenommenheit gegenüber Sexualstraftaten ist gesellschaftlich klar verbreitet». Deshalb sei die Revision nötig. Nötig war auch das Buch von Suter und Widla – eine Pflichtlektüre für alle!

* Namen geändert.

Natalia Widla, Miriam Suter: Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt. 176 Seiten. Erschienen beim Limmat-Verlag. März 2023. Preis: 25 Franken.

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