Was halten die Zürcherinnen und Zürcher von einem Mindestlohn? work hat sie gefragt.

Eine Stadt, eine Abstimmung, ein Mindestlohn

Christian Egg

Die Stadt Zürich stimmt am 18. Juni über einen Mindestlohn von 23.90 Franken pro Stunde ab. Jetzt zeigt ein Augenschein vor Ort: Die Idee kommt bei den meisten gut an.

HARTES PFLASTER: Zürich gehört zu den teuersten Städten weltweit. Trotzdem müssen hier 17 000 Menschen mit einem Bruttolohn von weniger als 4000 Franken auskommen. Die Mindestlohninitiative der Gewerkschaften würde das ändern. (Foto: Keystone)

«Für uns Büezer wird’s schwieriger», sagt einer der drei Männer und nimmt einen Schluck aus seiner Mineralflasche. Die anderen nicken. «Egal, welchen Job du hast: der Lohn soll zum Leben reichen. Auch hier in der Stadt!»

Die drei sitzen in der Nachmittagssonne am Lindenplatz in Zürich Altstetten. In dem Quartier am westlichen Rand der Stadt, durchschnitten von Autobahn und Bahngleisen, leben so viele Menschen wie nirgends sonst in Zürich. Hier will work wissen, wie die Idee eines Mindestlohns von 23 Franken 90 pro Stunde ankommt. Darüber stimmt die Stadt am 18. Juni ab.

Die drei am Lindenplatz sind sich einig: Ja, unbedingt. Der eine, Italo-Schweizer in dritter Generation und gelernter Strassenbauer, sagt mit Nachdruck: «Heute werden viele vom System versklavt.» Sein Kollege, Maler von Beruf, ergänzt: «Ein Mindestlohn wäre nicht die Lösung für alle Probleme – aber ein Schritt in die richtige Richtung.» Schliesslich, so der Strassenbauer, sei Zürich eine der reichsten Städte der Welt: «Wir könnten uns noch viel mehr leisten als 23.90!»

«Egal, welchen Job du hast: der Lohn soll zum Leben reichen. Auch hier in der Stadt!»

ARMUT VERHINDERN

Die drei, alle um die 50, kennen sich schon ihr Leben lang. Sie seien zusammen in die Schule gegangen, hier im Quartier, und wohnten immer noch alle in Altstetten. Tiefe Löhne kennen sie nicht nur vom Hören­sagen. Der dritte, blonder Stoppelbart und Schiebermütze, erzählt: Nach der Gärtnerlehre habe er zwischendurch als Handlanger gearbeitet, für 3500 Franken pro Monat. Er sagt: «Ein Mindestlohn verhindert, dass Menschen in die Armut abrutschen, obwohl sie voll arbeiten.»

Oder im Alter, fügt er hinzu. Seine Grossmutter zum Beispiel, die müsse mit einer AHV-Rente von 2300 Franken auskommen. Aus der Pensionskasse gebe es nur ein paar Franken, weil diese erst Mitte der 80er Jahre obligatorisch wurde. 1200 Franken koste die Grossmutter allein die Miete.

VIEL ARBEIT, WENIG LOHN

Auf einem Parkplatz stehen vier junge Frauen und ein Mann, alle in Coop-Arbeitskleidern: Zigarettenpause, bald müssen sie wieder an die Kasse. Haben sie schon von der Mindestlohn-Abstimmung im Juni gehört? Die fünf schauen sich an. Dann sagt eine: «Sorry, wir dürfen – äh, wir möchten dazu nichts sagen.» Vor der Brasserie am Lindenplatz wartet eine blonde Frau mit Sonnenbrille und modischem Mantel. Auch sie entschuldigt sich. Ihr Deutsch sei nicht so gut, Italienisch oder Spanisch wäre besser. Trotzdem will sie etwas ­sagen: Ja, sie sei für den Mindestlohn – «das Leben ist teuer!» Sie sei seit einem Jahr pen­sioniert, zuletzt habe sie Schulhäuser geputzt, für einen anständigen Lohn. Aber davor, als Zimmermädchen in einem Hotel, das sei ganz schwierig gewesen: «Viel Arbeit, wenig Lohn.»

«SELBER SCHULD!»

Wenig Lohn hat jetzt auch der Banker, den work über Mittag am Paradeplatz anspricht. Er ist 59, vor ein paar Jahren fiel er einem Personalabbau zum Opfer. «In einer Bank behalten sie dich nicht bis 65, das wissen alle.» Darum habe er von Anfang an finanziell vorgesorgt. Wer das nicht tue, sei «selber schuld». Jetzt arbeite er bei einem Vermögensverwalter, da sei er «quasi selbständig, am Anfang verdient man fast nichts. Viel weniger als 23.90 pro Stunde!» Trotzdem sei er gegen einen Mindestlohn, sagt der Mann im weissen Hemd. Als einziger der von work an diesem Nachmittag Befragten. «Das verteuert die Arbeit. Tiefe Löhne sind gut für die Firmen! Wer wenig verdient und sich daran stört, soll halt die Stelle wechseln.»

Am Lindenplatz schliesst eine Drogistin ihr Velo auf. Feierabend. Sie sei für den Mindestlohn, sagt die Frau um die 30. Allerdings befürchte sie, dass viele Betriebe die Lohnkosten dann auf die Preise überwälzen würden.


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