Sein Job machte Textilarbeiter Bego Demir krank – dann zwang er den türkischen Staat in die Knie

«Plötzlich begannen die Leute zu sterben»

Christian Egg

Die Arbeit in einer türkischen Jeansfabrik machte Bego Demirs (42) Lunge kaputt. Doch statt zum Opfer wurde er zum Aktivisten – und zwar einem sehr erfolgreichen.

Trotz Staublunge: Bego Demir kämpft für eine Textilindustrie, die die Arbeitenden schützt. (Foto: Bego Jeans)

Als er mit 24 Jahren den türkischen Militärdienst macht, merkt der Textilarbeiter Bego Demir: Mit seiner Lunge stimmt etwas nicht. «Beim Rennen war ich sofort ausser Atem», erzählt der Mann mit dem schicken Bart und den rötlichen Haaren. Der Armeearzt tippt auf Tuberkulose – doch alle Tests sind negativ.

Im gleichen Jahr wird ein guter Freund Demirs schwer lungenkrank und stirbt. Sein Beruf bringt den Arzt auf die richtige Spur: Er war Sandstrahler in einer Jeansfabrik, genau wie Demir. Jeden Tag behandelte er Jeansstoff mit Sand, um ihn auszubleichen. Ein Modetrend, der für die Arbeiter lebensgefährlich ist. Quarzstaub lagert sich in ihren Lungen ab. Auch bei Demir. Die Diagno­se: Staublunge. Er hat 46 Prozent seiner Lungenfunktion verloren. Für immer.

2009 erliess die Türkei ein Sandstrahler-Verbot. Dank Bego Demir.

KINDERARBEIT

work trifft Bego Demir in Zürich, die Organisation Public Eye hat ihn für einen Workshop eingeladen. Demir spricht ruhig, wirkt fast schüchtern. Aber seine Geschichte hat Kraft. Als 15jähriger kommt er aus einem kurdischen Dorf nach Istanbul, um Arbeit zu suchen. Es sind die Neunzigerjahre, in den reichen Ländern sollen neue Jeans aussehen, als hätte jemand in ihnen jahrelang Pferde zugeritten: abgewetzt und ausgebleicht. Am billigsten geht das mit Sandstrahlen. In der Türkei, damals die zweitgrösste Jeans-Exporteurin der Welt, machen schätzungsweise 10 000 Menschen nur das. Auch Demir. Zehn Jahre lang.
Zwölf Stunden dauert eine Schicht, zwei Arbeiter zusammen in einer Kabine. Einer legt die Jeans hin, der andere hält mit dem Schlauch auf die gewünschten Stellen. Mit Hochdruck wird Sand auf den Stoff geschleudert und bleicht diesen aus. Beim Aufprall wird der Sand pulverisiert, Silikonstaub verdunkelt die Luft. Die einfache Maske schützt die Arbeiter nicht, wie Demir heute weiss. «Es ist eine Drecksarbeit. Das machst du nur, wenn du keine Wahl hast.»

UNTERWEGS UND GUT GELAUNT: Aktivist Demir unter Textilarbeitern. (Foto: ZVG)

ÜBER 100 TOTE IN DER TÜRKEI

Die Staublunge war lange nur als Berufskrankheit von Berg- und Asbestarbeitern bekannt. Es sind türkische Ärzte, die 2004 als erste die Krankheit auch bei Sandstrahlern feststellen. Demir erinnert sich: «Plötzlich begannen die Leute zu sterben.» Bis heute sind 137 Todesfälle bekannt.

Demirs Lunge war ruiniert, aber sein Kampfeswille erwacht. Er schrieb einer Lokalzeitung ­einen Brief. «Am nächsten Tag war der Brief auf der Frontseite der grössten Zeitung im Land.» Und aus dem Textilarbeiter wurde ein Aktivist. Zusammen mit Ärztinnen, Künstlern und Juristinnen gründet er 2008 ein Sandstrahler-Komitee. Demir organisiert Proteste, lässt sich undercover als Sandstrahler anstellen und filmt mit versteckter Kamera für einen TV-Sender. Viele Medien berichten – und der türkische Staat muss handeln: 2009, nach nur einem Jahr Kampagne, verbietet er das Sandstrahlen in der Textilindustrie.

Trotz dem Erfolg hört Demir nicht auf. Denn die globale Textilindustrie verlagert die gefährliche Arbeit in andere Länder, etwa nach Bangladesh. Also lernt Demir Englisch, seine Organisation schliesst sich der internationalen Clean Clothes Campaign an und plant die Expansion nach Bangla­desh. Er erzählt: «2013 waren wir startklar. Doch dann kam die Rana-Plaza-Katstrophe.» Beim Einsturz eines achtstöckigen Gebäudes in Bangladeshs Hauptstadt Dhaka starben 1135 Menschen, die meisten davon Näherinnen. Und Demir realisierte: Nicht das Sandstrahlen ist das Problem. Sondern eine Industrie, die der billigen Produktion alles unterordnet. Inklusive Menschenleben.

«Fair Fashion»: So geht’s

Fair produzierte Jeans von A bis Z? Das geht, sagt Bego Demir. Und beweist es. 2019 gründet er mit Gleichgesinnten das Modelabel «Bego Jeans» und baut eine sozial-ökologische Produktion auf. Keine Chemikalien, faire Löhne, keine Gefährdung der Mitarbeitenden, keine Kinderarbeit, 100% rezyklierbar. Laut Demir umfasst die Lieferkette 13 Firmen, von der Bio-Baumwollplantage in Zentralanatolien über die Traditionsweberei bis zur Verarbeitung
alter Jeans zu Vorhängen.

FAIRNESS VOR PROFIT. Es sind Firmen, die auch andere Unternehmen beliefern. Genau das sei das Ziel gewesen, sagt Demir: «Wir wollen der Industrie zeigen, dass es geht. Zudem haben wir so Botschafter in jeder Fabrik.» Verkauft werden die Jeans in Fairtrade-Läden und im eigenen Webshop. Ist der Aktivist jetzt ein Unternehmer geworden? Demir lacht: «Unser Ziel ist nicht der Profit. Sondern unsere Philosophie zu verbreiten.» (che)

EINE AKTION GEHT VIRAL

Heute macht Demirs Organisation Druck auf ­­­die türkischen Kleidermarken, Verantwortung zu übernehmen für ihre Lieferkette. Sie arbeitet dabei auch eng mit den Gewerkschaften zusammen. Etwa 2017, als ein türkisches Subunternehmen Konkurs geht und 151 Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Löhne prellt. Zwar stellten sie Kleider für Zara, Next und Mango her – aber die stehlen sich aus der Verantwortung. «Da liessen wir Karten drucken mit dem Text: ‹Ich habe dieses Kleidungsstück hergestellt und wurde nicht bezahlt.›» Die Entlassenen gehen heimlich in die Läden und stecken die Karten in die Kleider. Die Aktion geht ­viral. Am Schluss müssen die Kleiderlabel für die Löhne geradestehen. Für Aktivist Demir zeigt das Beispiel: Die richtige Idee zur richtigen Zeit ist mehr wert als ein Millionenbudget. Er schmunzelt und sagt: «Die Karten haben gerade mal 80 Lira gekostet, etwa 50 Euro.»

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