Türkische Oppositionelle kritisieren Erdogan

Ein Land in Trümmern

Jonas Komposch

Nach dem Horror-Beben versagt die türkische Regierung auf der ganzen Linie. Eine Unia-­Aktivistin, ein geflüchteter Gewerk­schafter und ein Ex-Bürgermeister rechnen ab.

PURE VERZWEIFLUNG: Die Erdbeben in der Türkei und in Syrien forderten über 50 000 Menschenleben. (Foto: Keystone)

Eigentlich ist Firat Anli (52) ein hellwacher und aufgestellter Typ. Aber nicht heute. Nicht mehr, seit am 6. Februar zwei gewaltige Erdbeben in der Südtürkei und in Nordsyrien über 50 000 Menschen in den Tod rissen. Seither findet Anli keine Ruhe mehr. Er will helfen. Doch im Berner Exil, wo er seit fünf Jahren lebt, sind seine Möglichkeiten begrenzt. Insbesondere im Vergleich zu früher: Bis zu seiner Verhaftung als angeblicher «Terrorunterstützer» im Jahr 2016 war Anli Co-Bür­germeister der Kurden-Metropole Amed, besser bekannt unter ihrem türkischen Namen Diyarbakir. Die Zweimillionenstadt liegt 300 Kilometer vom Epizentrum entfernt. Trotzdem sind dort gegen 200 Häuser eingestürzt. Zahlreiche Opfer kennt Politiker Anli persönlich. «Ich bin müde», sagt er, «und sehr traurig.» Geschlafen habe er in letzter Zeit kaum, und wenn, dann nur schlecht. Denn: «Der Albtraum ist nicht vorbei.»

EIN-MANN-REGIERUNG VERSAGT

Tatsächlich folgten bereits mehrere schwere Nachbeben, zuletzt eines am 27. Februar. Zudem, so Anli, sei die Nothilfe im bitterkalten Katastrophengebiet völlig unzureichend. Das sieht auch Lami Özgen (60) so. Der türkeiweit bekannte Ex-Präsident des Gewerkschaftsdachverbands KESK lebt als politischer Flüchtling ebenfalls in Bern. 2017 war Özgen in der Türkei zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden – wegen angeblicher «Mitgliedschaft in einer Terrororganisation». Ausgerechnet er, der sich seit je für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts einsetzt. Heute wirkt auch Lami niedergeschlagen. Auch er hat in den Trümmern Verwandte, Freunde und Genossinnen verloren.

Umso grösser sei der Schmerz, da er zuschauen müsse, wie die Menschen im Stich gelassen würden. Lami sagt: «Es dauerte zwei volle Tage, bis nennenswerte Unterstützung eintraf. Und sogar drei Tage Anlaufzeit brauchte die Armee!»

Dieses Staatsversagen habe struk­turelle Gründe. Präsident Recep Tayyip Erdoğan (69) habe die Republik in einen gleichgeschalteten Führerstaat umgebaut. Sämtliche Amtsstellen und Gemeindechefs schauten jetzt nur noch zu ihm hoch. Ohne seinen Fingerzeig traue sich kaum mehr jemand, die Initiative zu ergreifen – in einer Katastrophensituation verheerend! Behördenversagen allein erkläre die Misere aber nicht, ergänzt Mine Çetinkaya (50).

Auch sie hat in Bern politisches Asyl gefunden. Zuvor hatte sich die Heilpädagogin in der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen engagiert. Das passte dem Regime nicht. Çetinkaya kam ins Gefängnis. 2017 gelang ihr eine waghalsige Flucht übers Mittelmeer in die Schweiz (work berichtete: rebrand.ly/­minesflucht). Çetinkaya, heute aktives Unia-Mitglied, sagt: «Es ist nicht so, dass der Staat bloss überfordert gewesen wäre. Es fehlt ihm auch der Wille!» Die Katastrophenregion sei Ankara schliesslich schon lange ein Dorn im Auge.

Spenden, aber richtig!

Zum Beispiel für  den Kurdischen Roten Halbmond unter heyvasor.ch oder solidar.ch

Bis 1995 brannte das Militär 4000 kurdische Dörfer nieder. Zur letzten Gross-Eskalation war es 2015 gekommen: Erdoğan hatte den Friedensprozess mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK aufgekündigt. Jugendliche errichteten darauf Barrikaden, besonders in Sur, der Altstadt von Diyarbakir. Erdoğan schickte Panzer. Seither ist Sur zerstört. Diyarbakir steht noch immer unter Zwangsverwaltung. Und genau das behindere eine effiziente Krisenbewältigung, sind sich die drei Flüchtlinge einig. Ex-Bürgermeister Anli erklärt: «Unsere Verwaltung legte immer Wert auf ein gutes Verhältnis zu den NGO. Regieren hiess für uns nicht befehlen. Wir verfolgten einen partizipativen Ansatz.» Das habe sich gelohnt. So habe seine Stadt 2016, als der IS das syrische Kobane belagerte, im Nu 180 000 Flüchtlinge aufnehmen und versorgen können. Doch unter der Zwangsverwaltung sei das Verhältnis zu den zivilgesellschaftlichen Partnerinnen und Partnern zerbrochen. Mehr noch: Unabhängige Hilfs­initiativen würden jetzt aktiv behindert. Gewerkschafterin Çetinkaya nennt ein Beispiel aus der Stadt Pazarcik: Dort hatte die Linkspartei HDP in einem Gebetshaus ein Krisenkoordinationszentrum eingerichtet. Doch Erdoğans Leute stürmten das Haus und konfiszierten die Hilfsgüter.

IM SCHWEIZER EXIL: Wegen ihrer politischen und gewerkschaftlichen Arbeit mussten sie aus der Türkei fliehen: Firat Anli, Mine Çetinkaya und Lami Özgen (v. l.). (Fotos: ZVG (2) / Matthias Luggen)

ERDOGAN: «DRECKIGER SCHUFT»

Die grösste Hilfsorganisation wiederum, der Türkische Rote Halbmond (TRH), hat bereits über 2000 Zelte verkauft statt verteilt. Und dabei 2,3 Millionen Euro kassiert. Die Organisation steht zudem im Verdacht, sich von Erdoğan politisch instrumentalisieren zu lassen. Auf Mai sind Wahlen angekündigt. Doch dem Staatschef fliegt jetzt das miserable Krisenmanagement um die Ohren. In den Fussballstadien des Landes protestieren bereits die Fankurven – ein Alarmsignal für jeden Langzeitherrscher! Erdoğan will die Wahl daher um ein Jahr verschieben. Schon jetzt reagiert der 69jährige auf jede Kritik ­allergisch: «Du hinterhältiger, dreckiger Schuft», sagte er zu einem Erdbebengeschädigten, der den TRH kritisiert hatte.

Noch schlimmer steht es um die Katastrophenschutzbehörde AFAD. Mitarbeitende wurden erwischt, wie sie ausländische Hilfslieferungen umetikettierten – mit dem Logo von Erdoğans AKP. Bedenklich: Der Grossteil der internationalen Hilfe läuft über die AFAD und den TRH. Anli, ­Özgen und Çetinkaya warnen: Bei der Notversorgung dürfe man sich nicht auf den türkischen Staat verlassen. Sie empfehlen daher, an den Kurdischen Roten Halbmond zu spenden. Diese Hilfsorganisation ist nicht nur in der Türkei, sondern auch im schwer zugänglichen Syrien präsent.

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