Gewerkschafterin Andreeva (41) über ihr «Jahr der Schocks»

«Die Ukraine ist die grösste Baustelle Europas»

Jonas Komposch

Putins Krieg zwang Anna Andreeva zur Flucht. Die Russin und Bau-Gewerkschafterin aus Kiew fand Aufnahme am Genfersee. work erklärt sie, warum die Gewerkschaften für Selenski so wichtig sind. Und warum er diese trotzdem nicht mag.

ANNA ANDREEVA: «Selenskis Regierung sind die Gewerkschaften ein Dorn im Auge.» (Foto: Oliver Vogelsang)

work: Frau Andreeva, Sie sind vor einem Jahr aus Kiew in die Schweiz geflüchtet. Wie geht es Ihnen heute?
Anna Andreeva: Ich bin sehr froh, hier zu sein. Nach ein paar Wochen in Genf habe ich eine Wohnung in Prangins gefunden, einem kleinen Waadtländer Dörfchen direkt am See. Es ist fast paradiesisch: Die Natur ist phantastisch, und die Leute sind unglaublich nett. Auch mein Sohn, mittlerweile fünfjährig, wurde von Beginn an herzlich aufgenommen. An seinem ersten Schultag war schon alles parat – auf seinem Pult lag ein Willkommensbriefchen mit seinem Namen drauf. Das hat ihn extrem gefreut. Und er macht Riesenfortschritte, spricht schon besser Französisch als ich!

«Die Gewerkschaften halten die Bevölkerung zusammen.»

Und der Krieg? Denken Sie nicht dauernd daran?
Natürlich verfolge ich die Situation aufmerksam, denn wir haben schon so viel verloren, und es könnte noch schlimmer kommen – nicht nur in der Ukraine. 2022 war für mich das Jahr der Schocks. Die überraschende Invasion, die Bomben auf Kiew, die Massaker, die Atomkriegsdrohungen … Aber mittlerweile konnte ich mich wieder sammeln. Jetzt hoffe ich, dass nicht noch mehr Schocks folgen, sondern Fortschritte, wenigstens kleine. Ich selber nehme alles, wie’s kommt, grosse Pläne liegen nicht drin.

Ihr Mann, Vasyl Andreyev, durfte die Ukraine nicht verlassen …
… das wollte er auch nie! Er ist Präsident der Bauarbeitergewerkschaft Profbud und hat seit Kriegsbeginn mehr zu tun denn je. Putins Bomben haben die Ukraine in die grösste Baustelle Europas verwandelt. Und es fehlt an allem. Besonders rar sind Baumaschinen und qualifizierte Arbeiterinnen und Arbeiter. Viele von ihnen sind an der Front. Die Gewerkschaften organisieren daher Ausbildungskurse im Bauwesen.

Werden die Gewerkschaften dabei vom Staat unterstützt?
Überhaupt nicht! Und das ist absurd, zumindest einerseits. Denn die Gewerkschaften leisten nicht nur wichtige Ausbildungsarbeit, sie haben auch sofort ihre Sanatorien und Hotels in Flüchtlingsunterkünfte und Volksküchen verwandelt. Sie sind praktisch zu humanitären Organisationen geworden. Sie halten die Bevölkerung zusammen. Und einige unterstützen die Truppen sogar logistisch.

Und andererseits?
Andererseits ist es logisch, dass die Gewerkschaften von Präsident Wolodimir Selenski im Stich gelassen werden. Denn seine Regierung ist äussert neoliberal, die Gewerkschaften sind ihr ein Dorn im Auge. Und zwar nicht nur, weil sie jetzt alles, was sowjetischen Ursprungs ist, unter Generalverdacht stellt – also auch die grossen Gewerkschaften. Sondern auch aus handfesten politischen Gründen: Die Regierung wollte im letzten Jahr ja eine riesige Arbeitsmarktreform durchpeitschen. Ziel war die maximale Flexibilisierung und vollkommene Deregulierung des Arbeitsgesetzes zugunsten der Unternehmer. Das konnten wir wenigstens teilweise verhindern.

Es herrscht Kriegsrecht. Streiks und Proteste sind verboten. Viele Gewerkschaftsmitglieder sind in der Armee oder geflüchtet. Wie erzeugt man in einer solchen Situation Druck?
Mit internationaler Solidarität! Sie ist jetzt noch wichtiger geworden. Gewerkschaften aus der ganzen Welt, auch aus der Schweiz, haben Selenski deutlich gemacht, dass unsere Arbeitsrechte nicht geschleift werden dürfen – erst recht nicht, wenn die Bevölkerung gerade von feindlichen Truppen überfallen wird. Geholfen hat uns auch, dass die Ukraine in die EU will. Denn die EU-Standards sind schlicht nicht kompatibel mit den radikalen Deregulierungsvorhaben unserer Regierung. Darauf hat besonders der Europäische Gewerkschaftsbund hingewiesen. Umso schlimmer war für uns der Korruptionsskandal in Brüssel.

«Katar-Gate» hat der Ukraine ge­schadet? Bitte erklären Sie.
Im Zuge der Polizeirazzien bei EU-Parlamentsmitgliedern wurde auch Luca Visentini verhaftet, der ehemalige Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds. Das haben die regierungstreuen Medien in der Ukraine sofort ausgeschlachtet: «Seht her, wir haben es ja immer gesagt, die ­Gewerkschaften sind korrupt.» Da hat uns Visentini einen schönen Bärendienst erwiesen.

Russin aus Kiew

Anna Andreeva (41) ist Gleichstellungsbeauftragte bei der Bau- und Holzarbeiter Internationale (BWI) in Genf. Nach ihrem Jusstudium in Berlin, Kassel und St. Petersburg heiratete die Russin einen ukrainischen Gewerkschafter. Das Paar lebte zehn Jahre in Kiew, bevor Andreeva mit ihrem Sohn (5) die Flucht ergriff (work berichtete: rebrand.ly/bombenhagel).

Sie sind Russin, St. Petersburg ist Ihre zweite Heimat. Wie hat sich Russland verändert mit dem Krieg?
Weil ich meine Meinung laut und öffentlich sage, ist eine Rückkehr nach Russland zu riskant geworden. Ich kann also nur aus der Ferne urteilen. Sicher ist: Die wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert. Die Schmerzgrenze ist aber noch lange nicht erreicht. Beim Einkaufen findet man zwar nicht mehr alles, doch die Läden sind geöffnet. Europa­ferien sind jetzt auch für die Reichen kompliziert geworden, doch der grösste Teil der Welt bleibt zugänglich. Die meisten Leute haben sich ohnehin zurückgezogen und wollen möglichst nichts zu tun haben mit dem Staat und dem Krieg. Widerspruch ist extrem gefährlich geworden. Putin verfügt über 5 Millionen bewaffnete Uniformierte. Sie stehen überall bereit, um Proteste im Keim zu ersticken. Geändert hat sich auch die Propaganda: Es geht nicht mehr um eine «Sonderoperation» gegen eine «Kiewer Nazi-Junta». Heute verbreiten die Fernsehkanäle die Lüge, dass Russland sein eigenes Territorium habe verteidigen müssen – und zwar vor der Nato und dem «kollektiven Westen».

Braucht die Ukraine also mehr Panzer und Kampfjets?
Ich weiss es nicht. Wenn es das Töten beendet … Der Krieg muss jedenfalls aufhören, und zwar für immer. Doch ein nachhaltiger Friede braucht einen gescheiten Plan – und den sehe ich leider noch nirgends.

1 Kommentar

  1. Beat Hubschmid

    Eindrücklicher Beitrag, danke.

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