Fünf Jahre nach Konkurs: Vögele-Verkäuferinnen bekommen ihr Geld

«Schon fast nicht mehr dran geglaubt!»

Christian Egg

KÖNNEN ENDLICH STRAHLEN: Die beiden früheren Vögele-Verkäuferinnen Zorana Jovanovic (64, links) und Susanna Isler (64, rechts). (Fotos: Severin Nowacki)

2018 liess Modegigant OVS das Traditionshaus Vögele konkursgehen. Jetzt ist klar: Die 1180 Entlassenen werden zu hundert Prozent entschädigt.

Gleich zwei Schocks seien das gewesen damals, sagt Verkäuferin Zorana Jovanovic. 2017 verschwindet die Tradi­tionsmarke Charles Vögele. Das Sagen hat die neue Besitzerin, die italienische OVS. Chef Stefano Beraldo verkündet grossspurig: «Der Schweizer Markt ist so attraktiv, dass es fast unmöglich ist, hier keinen Gewinn zu erzielen.»

Doch Beraldo ist nicht der Retter, sondern der Schrotter. Nur zwei Jahre später ist die Firma konkurs. 1180 Mitarbeitende verlieren die Stelle. Die grösste Massenentlassung in der Geschichte des Schweizer Detailhandels. Und für Unia-Mitglied Jovanovic der zweite Schock. 23 Jahre hat sie für Vögele gearbeitet, «und zwar sehr, sehr gern», wie sie betont. Mit 60 Jahren steht sie plötzlich vor einer ungewissen Zukunft.

«Wir hatten noch 15 Pullis im Laden, aber schliessen durften wir nicht.»

ÜBERRASCHUNG BEIM RAV

Denn es gibt nicht einmal einen Sozial­plan. Ein Sachwalter übernimmt die Zügel. Und der muss alle Gläubiger gleichbehandeln. Zwar werden noch Löhne ausgezahlt. Aber im Chaos der letzten Wochen geht vieles unter. Auch bei Jovanovic. Das merkt sie erst später: «Das RAV schickte mich in einen Kurs. Der Mitarbeiter dort schaute meine Unterlagen an. Plötzlich sagt er: Halt, das geht ja gar nicht!» Ihm war aufgefallen, dass die Verkäuferin aus Thun gar nicht arbeitsfähig war, als OVS konkursging. Tatsächlich lag sie damals mit einer Lungenentzündung im Spital. Ihr Glück: Durch die Krankheit verlängert sich die Kündigungsfrist. Also ist ihr Lohnanspruch deutlich höher als die Zahlungen, die sie bereits bekommen hat. Der Unia-Rechtsdienst hilft ihr, die Forderung einzugeben. Und dann heisst es warten. Fast fünf Jahre lang. Ende Januar endlich die erlösende Nachricht: Die Konkursmasse ist gross genug, dass alle Forderungen von Mitarbeitenden zu 100 Prozent erfüllt werden.

VOLLZEIT-JOB TROTZ AHV

Wie viel sie erhält, will Zorana Jovanovic nicht genau sagen. Aber es seien mehrere Tausend Franken. «Ich bin wahnsinnig erleichtert», sagt die 64jährige. «Ich habe nicht mehr daran geglaubt.» Trotz AHV arbeitet sie weiterhin zu 100 Prozent als Verkäuferin. Sie habe Glück gehabt, nach dem Konkurs wieder eine Stelle zu finden, denn: «Nur mit der Rente zu leben, das wäre schwierig.»

Wie Jovanovic waren gut 200 der Entlassenen Mitglied der Unia. Sie konnten im Konkurs auf die Gewerkschaft zählen. Auch Susanna Isler aus Thörishaus BE: «Die Briefe vom Sachwalter waren ziemlich kompliziert. Ich war froh, konnte ich einfach alles der Rechtsberaterin schicken.»

TAGELANG RUMSITZEN

Es sei ein gutes Gefühl, dass dieser Konkurs jetzt in Ordnung komme, sagt sie. Die letzten paar Monate mit OVS seien «ein schlechter Witz» gewesen: «Ab und zu kamen ein paar Manager in die Filiale. Aber die sprachen nur Englisch! Irgendwann konnten wir sie nicht mehr ernst nehmen.» Völlig absurd seien die letzten drei Tage gewesen: «Der Laden war leer bis auf einen Kleiderständer mit vielleicht 15 Pullis. Kundschaft kam keine mehr. Aber wir durften nicht schliessen!» Da habe sie halt Kreuzworträtsel gelöst, sagt sie und lacht.

Auch sie ist 64 und seit Herbst pensioniert. «Jetzt geht es mir blendend», sagt sie. Aus dem Konkurs wird sie gut 600 Franken erhalten. Sie sagt: «Geld kann man immer brauchen.»


Charles VögeleDer Aufstieg, der Absturz

1955: Der Autorennfahrer Charles Vögele eröffnet in Zürich ein Kleidergeschäft. Über die Jahre ­entstehen Filialen in der ganzen Schweiz.

1974: Bau des Seedamm-Einkaufszen­trums in Pfäffikon SZ

1979: Expansion nach Deutschland, bis 2011 in neun weitere europäische Länder. Vögele wird zu einer der grössten Kleiderketten in Europa mit über 8000 Mitarbeitenden in 800 Filialen.

1997: Charles Vögele verkauft das Unternehmen für eine Milliarde Franken an eine internationale Investorengruppe.

2010: Das Unternehmen schreibt zum letzten Mal Gewinn. Hollywood-Star Penélope Cruz soll für ein junges Image sorgen, die Kampagne verunsichert aber die Stammkundschaft – der Umsatz sinkt.

2016: Für gerade noch 56 Millionen Franken geht Vögele an Investoren um den italienischen Kleiderkonzern OVS. Dieser verkauft anschliessend Vögele-Immobilien und kassiert dafür 190 Millionen. Der Name Vögele verschwindet.

Juni 2017: OVS-Chef Stefano Beraldo verspricht, in den Filialen 150 bis 200 zusätzliche Stellen zu schaffen.

2017/18:In drei Entlassungswellen baut OVS Hunderte Stellen ab. Mehrere ausländische Tochterfirmen gehen konkurs oder werden verkauft.

Mai 2018: Die Firma geht in Nachlassstundung und schliesst ein Geschäft ums andere. Den Schliessbefehl gibt’s jeweils übers Internet (work berichtete: rebrand.ly/total-liquidation).

August 2018: OVS lässt Vögele konkursgehen. Alle 1180 Mitarbeitenden verlieren ihren Job. Es ist die grösste Massenentlassung, die der Schweizer Detailhandel je gesehen hat.

Januar 2023: Die Konkursverwaltung gibt bekannt: Gläubigern der ersten und zweiten Klasse – dazu gehören Mitarbeitende – werden 100 Prozent ihrer anerkannten Forderungen ausbezahlt. Für die restlichen Gläubiger geht das Konkursverfahren weiter.

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