Frankreich: Millionen-Protest wegen Rentenklau

Geeint gegen den eisernen Macron

Oliver Fahrni

Präsident Macron will eine Rentenreform zur entscheidenden Schlacht gegen Gewerkschaften und Linke machen. Dafür hat er die Demokratie auf «Off» gestellt.

PROTEST IN PARIS: Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften eifert Macron der ­früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher nach. (Foto: Getty)

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat geschafft, was lange unmöglich schien: Er hat die acht verfeindeten Gewerkschaftsverbände des Landes und ihre 250 Gewerkschaften zusammengebracht. Gegen sich und seinen Rentenabbau. Von den linken CGT und SUD-Solidaires über die sozialliberale CFDT bis hin zur FO, den Christlichen und Kaderverbänden.

Ihr gemeinsamer Streik vom 19. Januar hatte das Land teilweise lahmgelegt, mehr als 1,5 Millionen Menschen hatten in 180 Städten gegen Macrons Rentenreform demonstriert. Am 31. Januar aber, dem zweiten Akt, wurde erst richtig deutlich, welch immenser Zorn dem neoliberalen Regime heute entgegenschlägt. Deutlich mehr als 2 Millionen gingen auf die Strasse. In Paris erstreckten sich die Demo-Züge über neun Kilometer. In Marseille machten die Docker den Hafen dicht, zogen ihre gelben Westen über und übernahmen die Spitze einer riesigen Demo. Eine Krankenpflegerin sagte dort: «Ich habe noch nie demonstriert. Heute melden sich die Geopferten zu Wort.» Elektrizitätwerksarbeitende im Norden des Landes stellten für eine Stunde den Strom eines Industriegebietes ab, «als Warnung». Flüge mussten gestrichen werden. Züge, auch TGV, fuhren nur sporadisch. In der Pariser Métro fuhren nur die automatischen Linien 1 und 14. Wie schon bei den Inflationsstreiks im Dezember bildeten die Arbeitenden der Raffinerien und der AKW die Vorhut. Die Stromproduktion sank, viele Spritdepots blieben zu. Fünf grosse Universitäten wurden besetzt. Schülerinnen und Schüler blockierten mehr als 200 Gymnasien, obschon die Polizei zuvor mehrmals in die Schulen eingedrungen war, um Leute zu verhaften. Macrons Gedankenpolizei überwacht die Jugend wie Milch auf dem Herd. Ihre Revolte könnte leicht einen Aufstand à la Gelbwesten entfachen.

Die massive soziale Bewegung ist bemerkenswert, weil sich viele Bürgerinnen und Bürger aus Furcht vor Polizeigewalt und repressiven Sicherheitsgesetzen nicht mehr auf die Strasse wagen. Andere können sich einen Streiktag bei hoher Inflation und tiefen Löhnen nicht leisten.

Arbeitende in den Elektrizitätswerken kappten für eine Stunde den Strom.

UNNÖTIG, BRUTAL, ASOZIAL

Mit einem riesigen Propagandaapparat hatte Macron Frankreich auf seinen Rentenabriss vorbereitet. Und obschon alle grossen Medien längst seinen Milliardärsfreunden ge­hören, nahm der Widerstand Woche um ­Woche zu. Inzwischen lehnen 72 Prozent der Bevölkerung die Erhöhung des Rentenalters ab und sogar 93 Prozent der Lohnarbeitenden. Die Fiktion der Regierung, es gehe ­darum, das Sozialsystem zu retten, ist in sich zusammengefallen. Keine Ökonomin von Verstand, kein Rentenspezialist, keine So­zialforscherin möchte sie heute verteidigen. Hunderte von Persönlichkeiten haben den Plan Macrons in öffentlichen Stellungnahmen als unnötig, brutal und asozial entlarvt.

Ein Defizit von 12 Milliarden im Jahr 2027? Pure Fiktion, findet sogar die staatliche Fachkommission Renten (COR). Allein die Reserven des Systems würden das leicht auffangen. Und nur schon die überfällige Durchsetzung des Rechts auf Lohngleichstellung würde 6 Milliarden zusätzlich in die Kassen spülen. Pro Jahr. Hingegen verschärft Ma­crons Reform die Diskriminierung der Frauen. Rentenalter 64? Absurd. Es würde Millionen in die Sozialhilfe drücken – nur gerade ein Drittel der 60- bis 64jährigen haben heute einen Job. Ohnehin sind 30 Prozent der Männer mit tiefen Einkommen mit 64 bereits tot.

Dies alles und mehr macht klar: Macron geht es nicht um die Rettung, sondern um die Zerschlagung des Sozialsystems. Allein die Altersvorsorge generiert jedes Jahr Beiträge von 346 Milliarden Euro. Ein Riesenschatz, den sich etwa der weltgrösste Pen­sions- und Investmentfonds Black Rock gerne unter den Nagel reissen würde. Macron hat ihnen 2017 die Privatisierung versprochen.

VORBILD THATCHER

Also sucht der Präsident die Provokation. Seiner Premierministerin Elisabeth Borne liess er zum Auftakt der Parlamentsdebatte ausrichten, über das Rentenalter könne nicht mehr diskutiert werden. «Was tun wir dann hier überhaupt?» motzte eine Abgeordnete. Dann schickte Macron seinen manisch-repressiven Innenminister Gérald Darmanin in die Arena. Der nannte die Gegner der Reform «Champagner-Linke, die nicht arbeiten wollen und das Chaos planen». Ob sich die 93 Prozent der Arbeitenden, die gegen die Erhöhung des Rentenalters stehen, als faule Champa­gner-Trinker und Chaoten wiedererkennen?

Für das Chaos ist eher Darmanin selbst zuständig. Denn Macron sucht seinen «Thatcher-Moment». 1984/85 hatte die britische Premierministerin Margaret Thatcher den Streik der Bergarbeiter so nachhaltig niedergeknüppelt, dass die Gewerkschaften in existentielle Nöte geraten waren und die Linke sich selbst neoliberal sabotierte. Ma­cron weiss, dass er gegen die Bevölkerung regiert. Das ist in seinem autoritär-neoliberalen Projekt angelegt. Demokratisch hat es keine Chance. Egal, seit seiner Wiederwahl im April 2022 hat Macron elf Gesetzesverschärfungen per Notstandsparagraphen am Parlament vorbei erzwungen.

Nun hat der Präsident klargemacht, dass er die Rentenvorlage nicht zurücknimmt, selbst wenn die soziale Bewegung noch stärker wird. Ein Referendum, wie es die links-grüne Koalition Nupes verlangt, schlug er aus. Macron will die Entscheidungsschlacht gegen Gewerkschaften, Opposition und Gesellschaft. Deshalb verschärfen die Gewerkschaften den Konflikt. Am 7. Februar ist der nächste Streiktag angesagt, am 11. steigt Akt 3 der Demonstrationen. Bis dahin rufen die Gewerkschaften zu Aktionen, Blockaden, Firmenstreiks auf. Ein Marseiller Lehrer, Mitglied der CGT, erklärt das so: «Die einzigen, die Macron etwas abringen konnten, waren 2019 die unkontrollierbaren Gelbwesten.»

Innenminister Darmanin hat vorgesorgt. Für seine 32 000 Polizisten hat er reichlich Munition bestellt, darunter 10,2 Millionen Gas- und Schockgranaten.

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