Der Thurgau rüttelt am Arztgeheimnis …

… doch Vater Auer und Sohn rütteln dagegen!

Jonas Komposch

Das Projekt Rework soll Kranken und Verunfallten die Jobrückkehr erleichtern. Doch der Thurgau schiesst übers Ziel hinaus und will jetzt auch die Krankenakten offenlegen. Gewerkschafter-Duo Luki und Köbi Auer läuft Sturm.

KÄMPFERISCHES GESPANN: Dass die Rechte der Arbeitenden geschleift werden, lassen die Unia-Gewerkschafter Lukas (links) und Jacob Auer nicht zu. (Foto: Stephan Bösch)

Ein Unfall oder eine schwere Krankheit können einen gehörig aus der Bahn werfen. Die Rückkehr in den Job fällt oft schwer – besonders nach einer langen Arbeitsunfähigkeit. Genau hier setzt Rework an, ein von Sozialversicherungen, Gesundheitsinstitutionen und Arbeitgeberverbänden initiiertes Netzwerk. Es will Patientinnen und Patienten einen möglichst raschen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben ermöglichen. Dazu sollen alle Beteiligten – also Patient, Arbeitgeberin, Arzt und Sozialversicherung – in einen verstärkten Austausch treten. Teilzeitpensen oder angepasste Tätigkeiten würden so eher möglich, ist man bei Rework überzeugt. Das Projekt ist erst vor ein paar Jahren angelaufen – bisher in den Kantonen Solothurn, Graubünden, Glarus, St. Gallen und Thurgau. Und es hat überall grosse Hoffnungen geweckt. Einer Expansion gen Westen stünde nichts im Weg. Doch jetzt gibt es in der Ostschweiz mächtig Stunk.

«Eine solche Aufhebung des Arztgeheimnisses geht zu weit!»

SCHWEIGEPFLICHT ADIEU

Der Grund: ein Flyer von Rework Thurgau. Dieser empfiehlt Erkrankten pauschal: «Informieren Sie den Arbeitgeber regelmässig über den Krankheitsverlauf.» Als ob es kein Patientenrecht auf Geheimhaltung gäbe! Und nicht nur das. Der Flyer enthält sogar ein Formular zur Schweigepflichtentbindung. Wer es unterzeichnet, befugt behandelnde Ärztinnen und Ärzte, dem Arbeitgeber medizinische Informationen weiterzugeben.

Da machen die Gewerkschaften nicht mit. Unia-Ostschweiz-Präsident Köbi Auer (61) sagt: «Eine solche standardisierte Aufhebung des Arztgeheimnisses geht schlicht zu weit.» Der LKW-Mechaniker weiss, wovon er spricht. In seinem Berufsleben erlitt Auer bereits drei Herzinfarkte, musste den vorderen Teil eines Fusses amputieren, eine Niere transplantieren und kürzlich auch noch den Bauch operieren. Kommunikation und Offenheit seien zwar meistens hilfreich, sagt Auer. Andererseits bestehe das Risi­­ko, dass gewisse Arbeitgeber dies ausschliesslich zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzten.

Auch Köbis Sohn Lukas Auer (32), seinerseits Präsident des kantonalen Gewerkschaftsbunds, hat Einwände: «Gemeinsame Gespräche wären ja schön und gut. Doch bisher konnte mir bei Rework niemand garantieren, dass daraus keine Kündigungen oder Vertragsauflösungen resultieren!» Mit ihrer Kritik sind die Auers nicht allein.

Brigitta Danuser, emeritierte Professorin für Arbeitsmedizin, sagt zu work: «Eine Schweigepflichtentbindung so zu bewerben, ist ethisch nicht vertretbar.» Ohnehin nütze die blosse Offenlegung einer Diagnose den Chefs nichts. Denn: «Es gibt rund 10 000 verschiedene Krankheiten, und zudem ist eine Diagnose nichts Statisches.» Für Angestellte seien die Risiken einer Schweigepflichtentbindung hingegen beträchtlich: «Besonders bei psychischen Erkrankungen läuten bei vielen Arbeitgebern die Alarmglocken, und es geht nur noch darum, den Arbeitnehmer loszuwerden.»

SCHRÄGE REGIERUNGSERKLÄRUNG

Diese Bedenken haben auch Vater und Sohn Auer. Auf Fundamentalopposition machen die beiden trotzdem nicht. «Im Grundsatz ist Rework eine gute Sache!» sagt Köbi. Die generelle Schweigepflichtentbindung müsse aber weg. Sohn Lukas stört aber noch etwas: Ausgerechnet die Gewerkschaften hat Rework Thurgau nicht ins Boot geholt. Dabei seien sie doch die Interessenvertreterinnen jener, die bei Rework im Zentrum stehen: die Arbeitenden! Auer senior, der für die SP im Kantonsparlament sitzt, hat deshalb beim Regierungsrat nachgehakt. Die Antwort liegt seit Mitte Dezember vor – und hat es in sich!

Die Regierung schreibt, dem Thurgauer Rework-Netzwerk gehöre ja auch die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) an. Damit sei «die Arbeitnehmerschaft vertreten, da im Verwaltungsrat der Suva 16 Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerschaft sitzen, wovon fünf der Unia angehören». Kantonsrat Auer konnte es kaum glauben: «Völlig schräg» sei diese Logik. Denn: «Die Suva vertritt die Anliegen als Versicherin, nicht jene der Arbeitnehmenden!» Diese stünden bislang alleine da. Anders die Unternehmer: Sie sind mit Gewerbeverband, Versicherungsverband sowie Industrie- und Handelskammer üppig vertreten. Dass es auch anders ginge, beweisen Graubünden und Glarus.

Dort sitzen die Gewerkschaften bei Rework mit am Tisch. Edina Annen (29), Präsidentin des Bündner Gewerkschaftsbunds, sagt: «Wir wurden von Anfang an eingeladen und konnten eine sehr gute Zusammenarbeit etablieren.» Lina Manno (29) von der kantonalen Sozialversicherungsanstalt bestätigt: «Es braucht einen offenen und kritischen Diskurs.» Die Sicht der Arbeitnehmenden sei daher immer miteinzubeziehen. Und wie steht es um die Schweigepflicht­entbindung, wie sie im Thurgau propagiert wird?

GLARNER ÄRZTE WARNTEN

So weit wollte kein zweiter Kanton gehen. In Graubünden hat man sich sogar bewusst dagegen entschieden. Ebenso in Glarus. Dazu Suva-Mann und Rework-Glarus-Sprecher Thomas Hug (52): «Bei uns war es nicht zuletzt die Ärztegesellschaft, die vor ­einer standardisierten Schweigepflichtentbindung warnte. Denn das führe nur zu Scherereien mit den schwarzen Schafen unter den Firmen.» Auch in Solothurn und St. Gallen sah man von diesem Schritt ab. Barbara Gysi (58), Präsidentin des St. Galler Gewerkschaftsbunds und SP-Nationalrätin, ist erleichtert: «Das wäre nicht nur ein Eingriff in die Persönlichkeitssphäre der Betroffenen, sondern auch unnötig. Eine punktuelle Entbindung, soweit sie für die Arbeit relevant ist, reicht absolut.» Zufrieden ist aber auch Gysi nicht: «Auch unser Gewerkschaftsbund wurde leider nie kontaktiert.»

Lange Absenzen: Teuer und tückisch

Ein naturgemäss grosses Interesse an einer baldigen Rückkehr der kranken Arbeitnehmenden haben Versicherer und Unternehmer. Denn jeder Absenztag kostet eine Firma im Schnitt 600 bis 1000 Franken.

MEHR SCHUTZ. Aber auch die Betroffenen sind froh, wenn das Stubenhocken nicht von Dauer ist. Denn: Je länger die Absenz, desto schwieriger der Wiedereinstieg. Zahlen zeigen: Schon nach einem halben Jahr gelingt die Rückkehr nur noch in der Hälfte aller Fälle! Edina Annen, Mitarbeiterin der Psychiatrischen Dienste Graubündens und Gewerkschaftsbundprä­sidentin, sieht in einer frühzeitigen Reintegration daher auch einen Schutz vor Arbeitslosigkeit. (jok)

 

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