Ratgeber

«Die Schweiz muss einiges mehr tun»

Martin Jakob

Das Schweizerische Arbeiterhilfswerk unterstützt Menschen in schwierigen Lebens­lagen. Ob mit Ferien für armutsbetroffene Kinder oder bei der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. work sprach mit Caroline Morel, Leiterin des nationalen SAH-Sekretariats.

UNBESCHWERTE TAGE: Für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen führt das SAH jedes Jahr Ferienlager durch. (Foto: SAH)

In Zürich Oerlikon erinnert ein Strassenschild an sie: Regina Kägi-Fuchsmann. Die Frauenrechtlerin und humanitäre Aktivistin lebte von 1889 bis 1972, war eine der ersten Präsidentinnen der Frauenzentrale, leitete ab 1933 die Proletarische Kinderhilfe und bis 1951 deren Nachfolgeorganisation: das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH), das sie mit Unterstützung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds und der SP Schweiz 1936 gegründet hatte. Der Ak­tionsradius des Arbeiterhilfswerks reichte schon bald weit über die Landesgrenze hinaus. Neben der Bedürftigenhilfe im Inland versandte das SAH Hilfepakete in Kriegs- und Krisenländer, leistete bei Katastrophen Hilfe vor Ort und engagierte sich in der Entwicklungshilfe.

Vor 17 Jahren dann die Reorganisation: 2005 wurde die internationale Tätigkeit des Arbeiterhilfswerks in die Organisation ­Solidar Suisse übergeführt (siehe Text unten). Unter dem ursprünglichen Namen Schweizerisches Arbeiterhilfswerk sind seither die nationalen Aktivitäten gebündelt. Das SAH unterstützt Jugendliche und Erwachsene bei der Arbeitssuche, bietet Sprachkurse für Menschen an, die kein oder wenig Deutsch sprechen, berät Personen in schwierigen Lebenssituationen und begleitet Geflüchtete im Asylverfahren. Immer mit dem Ziel, dass die Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Heute ist das SAH damit die grösste schweizerische Organisation für Integrationsmassnahmen. Zehn unabhängige Regionalvereine sind mit rund 850 Mitarbeitenden in 18 Kantonen und 44 Städten der Schweiz im Einsatz.

Ferien für Kinder

Jedes Jahr organisiert das Schweizerische Arbeiterhilfswerk Ferien­lager für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen. Sieben ­Lager werden es nächstes Jahr sein. Anmeldungen sind online möglich. Die Lager finanzieren sich hauptsächlich durch Unterstützungsbeiträge von Stiftungen und Privatpersonen. Spenden sind hochwillkommen!
rebrand.ly/sahferien

work hat mit SAH-Leiterin Caroline Morel über die Wichtigkeit ihrer Arbeit gesprochen.

work: Die Arbeitslosenquote liegt aktuell so tief wie zuletzt vor 20 Jahren. Braucht es da die SAH-Angebote zur Stellensuche noch?

Caroline Morel

Caroline Morel: Für viele Stellenlose ist es zurzeit tatsächlich einfacher als auch schon, einen Job zu finden. Manchmal schreiben sich Stellensuchende bei uns für eine Massnahme ein und melden sich dann kurzfristig ab mit dem Bescheid, sie hätten bereits eine neue Anstellung gefunden. Der Arbeitsmarkt ist aber schwer zugänglich geblieben für Menschen mit psychischen und anderen gesundheitlichen Problemen, oft verbunden mit schwierigen ­familiären Verhältnissen. Da eröffnet sich durch die aktuelle ­Situation für uns zumindest die Möglichkeit, solche Personen intensiver zu betreuen. Ausserdem können wir die frei werdenden Kapazitäten nutzen, um auf neue ­Bedürfnisse zu reagieren.

Die da wären?
Seit Anfang Jahr haben weit über 60’000 Menschen, die aus der ­Ukraine zu uns geflohen sind, den Schutzstatus S erhalten. Sie alle brauchten zunächst ein Dach über dem Kopf und Nahrung. Manche SAH-Regionen waren bereits in dieser Phase aktiv und unterstützten bei der Vermittlung von Gastfamilien. In einer zweiten Phase geht es um die berufliche und soziale Integration. Dazu verfügen wir mit unseren Angeboten in der Beratung, Bildung und Betreuung von Migrantinnen und Migranten über eine grosse Zahl von Modulen. Wir geben Sprachkurse, beraten in Fragen des Migrationsrechts und bereiten auf die Stellensuche vor.

Die SAH-Regionen führen ­eigene Restaurants und Werkstätten. Wozu dieser Ausflug ins Unternehmertum?
Um Integration zu ermöglichen! Betriebe wie zum Beispiel das Re­staurant «Sahltimbocca» in Zürich oder die «Velodienste» in Thun und Interlaken bieten Menschen in der Sozialhilfe einen Wiedereinstieg ins Berufsleben. Sie können sich, in der Regel während eines bis dreier Monate, auf die Rückkehr in den Arbeitsmarkt vorbereiten. Der Arbeitsalltag ist begleitet von Einzel- und Gruppencoachings, Ziel ist es, eine geeignete Anschlussmöglichkeit zu finden. Unternehmerisch handeln wir in diesen Betrieben insofern, als sie marktfähige Leistungen anbieten und sich finanziell selber tragen müssen.

«Die Altersgrenzen für Stipendien gehören abgeschafft.»

Das SAH engagiert sich in der schweizerischen Allianz gegen Armut. In Ihren Positions­bezügen betonen Sie die Bedeutung und die Dringlichkeit von Bildung zur Armutsprävention. Tut sich da etwas, was Sie hoffnungsvoll stimmen könnte?
Die Aufnahme in den Arbeitsmarkt und soziale Teilhabe setzen Grundkompetenzen voraus, das lehrt uns unser Wirken jeden Tag. Mit dem landesweiten Programm «Einfach besser» läuft zwar mittlerweile eine gute Bildungsoffensive, die aber hauptsächlich auf Schulstoffe wie Lesen und Schreiben ausgerichtet ist. Die Schweiz muss einiges mehr tun zur Förderung der Grundkompetenzen, und das auch in Landgemeinden – dort sind die Angebote im Vergleich zu den Städten bisher klar schlechter. Ausserdem brauchen wir mehr Berufsbildungsangebote für Erwachsene unterhalb des ­bestehenden eidgenössischen Niveaus, die Altersgrenzen für Stipendien gehören abgeschafft. Da bleibt viel zu tun!

Die meisten seiner ­Leistungen erbringt das SAH heute in Form von Programmen, welche die öffentliche Hand und teilweise Geberstiftungen ­finanzieren. Sie rufen aber auch Privatpersonen zu Spenden auf. Wozu verwenden Sie diese Einnahmen?
Privatspenden verwenden wir in erster Linie zur Finanzierung unserer jährlichen Ferienlager für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen. Nächstes Jahr sind sieben Lagerwochen geplant. Geberstiftungen engagieren sich ­dagegen in erster Linie in der Anschubfinanzierung für neue Integrationsangebote. Beide Einkommensquellen sind für uns wichtig, weshalb wir uns auch regelmässig von der Zewo zertifizieren lassen. Damit haben alle, die uns unterstützen, Gewähr für einen korrekten Einsatz ihrer Spenden.


Solidar Suisse Globale Fairness

Reiches Land schickt Geld in armes Land. Reiches Land denkt: Jetzt ist die Welt im Lot! Wenn das so einfach
wäre … Solidar Suisse, hervorgegangen aus dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (siehe Text links), versteht Solidarität anders. Die Schweizer Entwicklungsorganisation kämpft für faire Arbeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und gegen ­extreme Ungleichheit.

SÜDAFRIKA. Zum Beispiel in Südafrika, jenem Land, das weltweit an der Spitze der so­zialen Ungleichheit steht. Mil­lionen von Menschen müssen dort mit Tiefstlöhnen durchs Leben kommen. Das von ­Solidar unterstützte Casual ­Workers Advice Office (CWAO) ­berät prekär Beschäftigte, ­unterstützt sie beim Gang vor Gericht und bietet ihnen einen sozialen Treffpunkt, der es auch ermöglicht, sich zu organisieren – bis hin zum Streik.

PAKISTAN. Oder in Pakistan, wo Kinderarbeit trotz offiziellem Verbot noch immer gang und gäbe ist. Oft sind die jungen Menschen gezwungen, mit Gelegenheitsjobs zum Lebensunterhalt ihrer Familie beizutragen. Das macht es ihnen äusserst schwierig, zur Schule zu gehen. In informellen Bildungszentren in den Slums von Islamabad ermöglicht Solidar Suisse Kindern trotz allem eine Schulbildung. Der erste Schritt, um sich aus der ­Armutsspirale zu befreien.

60 PROJEKTE. Aktuell ist Solidar Suisse in über 60 Projekten auf vier Kontinenten engagiert. Wer Solidar Suisse als Mitglied unterstützt, bezahlt ­einen Jahresbeitrag von 70 Franken. Darin inbegriffen ist das Abo der Zeitschrift ­«Solidarität». Freie Spenden sind ebenfalls möglich. (jk)
www.solidar.ch

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