Ratgeber

Witwe oder Witwer: Unterschiede bleiben

Martin Jakob

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte­ hat diesen Herbst ein Urteil gefällt: Die AHV diskriminiert Witwer. Diese hat mit kleinen ­Anpassungen reagiert. Was leistet die erste ­Säule für Hinterbliebene überhaupt, was ändert sich jetzt, und was bleibt gleich?

ABSICHERUNG ÜBER DEN TOD HINAUS: Ob ein Mann eine Witwerrente erhält, hängt vor allem davon ab, ob er Kinder hat. (Foto: Getty)

Wird über die AHV politisiert, geht es meistens um die Altersrente. Begreiflich. Denn die finanzielle Sicherung des Alters ist ihre wichtigste Aufgabe. Rund 2,5 Millionen Menschen beziehen eine Altersrente der AHV. Doch die erste Säule richtet auch Leistungen aus, wenn ein Elternteil vor Erreichen des Rentenalters stirbt. Rund 200 000 Menschen beziehen zurzeit eine Waisen-, Witwen- oder Witwerrente der AHV.

Das Gesetzeswerk der AHV ist noch ganz erfüllt vom einst klassischen Familienmodell: die Eltern verheiratet, der Mann arbeitet auswärts für Lohn, die Frau versorgt zu Hause kostenlos die Kinder. Nur in kleinen Schritten hat sich das Vorsorgewerk bisher neuen Realitäten angepasst. Was gilt nun aktuell für wen?

Wie hoch wird die Rente?

Die Höhe der Hinterlassenenrente ergibt sich aus den geltenden Beträgen für die Altersrente: Die Witwen- oder Witwerrente beträgt 80 Prozent einer AHV-Altersrente, die Waisenrente 40 Prozent. Die Minimal- und Maximalbeträge 2023:

  • Altersrente: 1225 bis 2450 Franken,
  • Witwen-/Witwerrrente: 980 bis 1960
  • Waisenrente: 490 bis 980 Franken.

Die Beträge gelten vorbehältlich einer allfälligen Erhöhung durchs Parlament im Frühjahr 2023.

KINDER. Kinder erhalten eine Waisenrente, wenn ein Elternteil stirbt. Beim Tod beider Eltern werden zwei Renten ausbezahlt. Der Rentenanspruch erlischt mit dem 18. Geburtstag oder bei Ab­schluss der Ausbildung, spätestens aber mit dem 25. Geburtstag.

SINGLES. Für Menschen, die weder verheiratet sind oder waren noch Kinder haben, ist die Antwort einfach: Es sind keine anspruchsberechtigten Hinterbliebenen vorhanden. Achtung: Auch mit einem Konkubinatsvertrag können Paare bei der AHV kein Anrecht auf Witwen- oder Witwerrente erwirken. Dies im Unterschied zur Pensionskasse, deren Reglement eine Rente für Konkubinatspartnerinnen und -partner vorsehen kann (siehe Spalte rechts: «Noch mehr Schutz»).

EINGETRAGENE PARTNER. Stirbt der oder die Partnerin, hat der oder die Überlebende Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente, wenn es sich um eine eingetragene Partnerschaft handelt. Aber nur, solange er oder sie Kinder unter 18 Jahren hat.

VERHEIRATETE MIT KINDERN. Hat eine verheiratete Frau zum Todeszeitpunkt ihres Ehepartners eines oder mehrere Kinder, hat sie eine Witwenrente zugute. Und zwar unabhängig davon, wie alt die Kinder sind. Die Witwenrente erhält sie auch, wenn sie mit einer Frau verheiratet war und mit dieser ein Kind aus künstlicher Befruchtung hatte.

Anders war es bisher bei verheirateten Männern: Nach dem Tod der Ehefrau erhielten sie nur so lange eine Witwerrente, bis das jüngste Kind das 18. Altersjahr erreicht hatte – danach war Schluss. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof (siehe «Der Fall, das Urteil») hat die AHV nun Übergangsregeln erlassen. Sie sind seit dem 11. Oktober gültig und bleiben in Kraft, bis die Gesetze angepasst werden. Neu erhalten Witwer eine Witwerrente über die Volljährigkeit der Kinder hinaus. Dies gilt für alle verwitweten Männer, deren Rente per 11. Oktober bereits ausbezahlt wurde oder die nach dem 11. Oktober verwitwen. Ausgenommen von der Neuerung sind Witwer, deren Verfügung zur Rentenaufhebung bereits vor dem 11. Oktober rechtskräftig ­geworden ist.

VERHEIRATETE OHNE KINDER. In diesem Fall wurden schon bisher und werden auch künftig Frauen und Männer ungleich behandelt – daran ändert auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs nichts. Stirbt in einer kinderlosen Ehe der Mann, erhält seine Witwe eine Witwenrente, wenn sie zum Zeitpunkt des Todesfalls das 45. Altersjahr zurückgelegt hat und mindestens fünf Jahre verheiratet war. Das gleiche gilt für die Hinterbliebene in gleichgeschlechtlichen Ehen. Stirbt hingegen in der kinderlosen Ehe die Frau – oder in der gleichgeschlechtlichen Ehe zweier Männer der eine Mann – , erhält der Witwer keine Witwerrente.

GESCHIEDENE. Geschiedene Männer haben nur Anspruch auf eine Witwerrente, wenn sie aus der ­geschiedenen Ehe Kinder unter 18 Jahren haben. Geschiedene Frauen hingegen bekommen auch eine Witwerrente, wenn:

  •  ihre Kinder bereits volljährig sind und die Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat,
  • sie zum Zeitpunkt der Scheidung älter als 45jährig waren und die Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat,
  • sie älter als 45jährig waren, als das jüngste Kind das 18. Altersjahr erreicht hatte.

Hatte ein Ehepaar keine Kinder, bleibt die Witwe bessergestellt.

IN RENTE. Beim Anspruch auf Hinterlassenenleistungen ändert sich durch das Erreichen des Renten­alters grundsätzlich nichts: Die gleichen Voraussetzungen in Bezug auf Zivilstand, Geschlecht, ­Alter und Kinder müssen erfüllt sein. Allerdings wird neu gerechnet. Hat jemand gleichzeitig eine Alters- und eine Hinterlassenenrente zugute, werden die beiden Ansprüche verglichen und die jeweils höhere Rente ausbezahlt. Das ist entweder die eigene Altersrente plus Verwitwetenzuschlag von 20 Prozent oder die Hinterbliebenenrente. Die Rente steigt aber auf keinen Fall über die Maximalrente einer Einzelperson (2022: 2390 Franken).


Witwer-Diskriminierung  Der Fall, das Urteil

Einem Schweizer Witwer, der seine Töchter nach dem Tod der Gattin allein aufzog und dazu Hausmann wurde, wurde die Witwerrente gestrichen, nachdem das jüngste Kind volljährig geworden war. Weil auch das Bundesgericht diese Verfügung für rechtens befunden ­hatte, klagte er am Europäischen ­Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser entschied, die ungleiche Behandlung von Witwerinnen und Witwern verstosse gegen die Menschenrechte. Das defini­tive Urteil der Grossen Kammer des EGMR liegt seit dem 11. Oktober vor.


BVG und UVGNoch mehr Schutz

Neben der AHV enthalten zwei weitere wichtige Sozialver­sicherungswerke Leistungen für Hinterbliebene.

PENSIONSKASSE. Bei den Pen­sionskassen gelten ähnliche ­Regeln wie bei der AHV, allerdings mit einigen Unterschieden. Die wichtigsten:

  • Witwe und Witwer sind – ob als hinterbliebene Ehepartner oder eingetragene Partner – gleichgestellt. Beide erhalten eine Rente, wenn sie für den Unterhalt eines Kindes aufkommen müssen oder wenn sie älter als 45 Jahre sind und die Ehe mindestens fünf Jahre gedauert hat.
  • Versicherte können je nach ­Reglement ihrer Pensionskasse auch andere Personen als Begünstigte einer Hinterlassenenrente bestimmen. Das ist vor ­allem für Konkubinatspaare wichtig.

UNFALLVERSICHERUNG. Die Berufsunfallversicherung ist in der Schweiz ab der ersten Arbeitsstunde obligatorisch, die Nicht­- berufsunfallversicherung für alle, die acht oder mehr Stunden pro Woche arbeiten. Sie richtet im ­Todesfall der versicherten Person Waisenrenten aus sowie eine Hinterlassenenrente an den überlebenden Partner bzw. die über­lebende Partnerin aus einer Ehe oder einer eingetragenen Partnerschaft, wobei die Witwe wie bei der AHV bessergestellt ist als der Witwer.

EMPFEHLUNG. Besonders für Paare, die im Konkubinat, in eingetragener Partnerschaft oder ganz ohne vertragliche Bindung in eheähnlicher Gemeinschaft l­eben, lohnt sich die gründliche Abklärung der Absicherung im ­Todesfall eines Partners.
Die Links zu den Gesetzen:
AHV: rebrand.ly/workahv
BVG: rebrand.ly/workbvg
UVG: rebrand.ly/workuvg
Prüfen Sie ausserdem das Reglement Ihrer Pensionskasse und private Versicherungspolicen (jk)

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