Arbeiterführer Lula drängt Faschist Bolsonaro aus dem Amt

Lula Presidente!

Niklas Franzen, São Paulo

Vom Metallarbeiter zum Präsidenten zum Häftling zum Präsidenten: die fast unglaubliche Geschichte des Gewerkschafters Lula.

«Olé, Olé, Olé, OlÁ, LULA, LULA»: Lulas Sieg stürzt Hunderttausende Brasilianerinnen und Brasilianer in einen Freudentaumel. (Foto: Keystone)

Luiz Inácio «Lula» da Silva (77) hat ein breites Lächeln im Gesicht, als er um 20.44 Uhr Ortszeit im vollgepackten Auditorium vor die Presse tritt. Man hört Jubel, Fäuste werden in die Luft gereckt, im Chor schallt es «Olé, olé, olé, olá, Lula, Lula». Es ist der 30. Oktober, Wahlsonntag. Wenige Minuten zuvor war in dem schicken Hotel im Zen­trum von São Paulo bekannt geworden, dass der ehemalige Gewerkschaftsführer die Stichwahl gegen den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro gewonnen hat.

Nach seiner Rede zieht Lula weiter auf die Avenida Paulista, die bekannteste Strasse der Stadt. Zehntausende haben sich dort versammelt: Ein Meer aus Rot, Feuerwerk kracht in der Luft, es fliessen Freudentränen. Verkäufer preisen T-Shirts mit dem Konterfei Lulas an, auf Grills brutzeln Fleischspiesse. Zélia Lucas Patricio, 57, eine schwarze Frau mit Lula-Stickern auf dem weissen Blazer, ist aus dem armen Randgebiet ins Zentrum gekommen, um den Wahlsieg Lulas zu feiern. «Es ist ein Sieg der Demokratie», sagt sie. Bolsonaro habe nichts für die Vorstadt gemacht, sei ein Präsident der Reichen. Bei Lula sei das anders.

KUPFER-DREHER

Lula stammt aus dem armen Nordosten Brasiliens, entfloh mit seiner Familie dem Hunger, um im Industriegürtel São Paulos ein neues Leben zu beginnen. Ein Klassenzimmer sah er nur für kurze Zeit von innen. Mit 14 fing er an, als Dreher in einer Kupfer­fabrik zu arbeiten. Dort formte er eine aussergewöhnliche Karriere: Der redegewandte junge Mann brachte es schnell zum Gewerkschaftsführer, organisierte Streiks, hielt flammende Reden vor Werkstoren.

Jean Ziegler über Lula: Die Hoffnung Brasiliens

Im April 2021, kurz nachdem Lula von allen Korruptionsvorwürfen freigesprochen worden war, schrieb Jean-Ziegler in seiner work-Kolumne: «Lulas Sozialprogramme verbesserten das Leben von vielen Millionen seiner Landsleute. Jetzt hungern sie wieder.» Hier gibt’s die ganze Kolumne zum Nachlesen: rebrand.ly/ziegler-lula

Anfang der 1980er Jahre gründete Lula gemeinsam mit Mitstreiterinnen und Mistreitern eine Partei, die Brasilien nachhaltig verändern sollte: die Arbeiterpartei «Partido dos Trabalhadores». In den dunklen Jahren der Militärdiktatur war sie ein Sammelbecken für oppositionelle Gewerkschafter, sozialistische Katholiken und soziale Bewegungen, und Lula wurde ihr bekanntestes Gesicht. Sein Interesse an Politik, erklärte er später einmal, erwachte bei einem Besuch im brasilianischen Kongress: Von den 433 Abgeordneten kamen nur 2 aus der Arbeiterklasse.

Mit 14 arbeitete Lula in einer Kupferfabrik.

SOZIALPROGRAMME

Das wollte Lula ändern. Dafür musste er nach ganz oben. Dreimal zog er als Spitzenkandidat für die Arbeiterpartei in den Wahlkampf. Dreimal unterlag er. Vor der Wahl 2002 schlug Lula dann moderatere Töne an und signalisierte: Mit ihm als Präsidenten werde es keinen radikalen Bruch geben. Vor 20 Jahren schrieb er Geschichte: Der Metallarbeiter wurde zum Präsidenten des grössten Landes Lateinamerikas gewählt.

Für die Armen sollte mit Lulas Wahlsieg eine neue Zeit beginnen. Mit den Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft konnte die Regierung Sozialprogramme finanzieren, 30 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer entkamen der Armut, der Hunger wurde fast komplett beseitigt. Schwarze Vorstadtkinder schrieben sich nun an Universitäten ein, Hausangestellte bekamen erstmals Arbeitsrechte zugesprochen.

KLEINES WUNDER

Dass Lula nun erneut zum Präsidenten gewählt wurde, kommt einem kleinen Wunder gleich. 2017 verurteilte ihn ein Gericht wegen passiver Korruption und Geldwäsche. Der Vorwurf lautete konkret: Der Ex-Gewerkschafter soll einem Baukonzern Staatsaufträge als Gegenleistung für eine Luxuswohnung verschafft haben. Das Urteil stützte sich allein auf Indizien, Beweise konnte die Staatsanwaltschaft nicht präsentieren. Trotzdem kam der frühere Präsident in Haft und konnte damit, anders als geplant, 2018 nicht bei der Wahl antreten. Auf diese Art wurde der Weg frei für Bolsonaro. Doch Brasiliens serienreife Geschichte nahm weitere Volten: 2019 kam Lula aus der Haft frei, und im März 2021 wurden alle Urteile gegen ihn annulliert. Am 1. Januar 2023 wird er als Präsident vereidigt.

Im Wahlkampf gab sich Lula als grosser Versöhner, als Anti-Bolsonaro, als jemand, der das Land wieder zusammenbringen will (work berichtete: rebrand.ly/lula-hoffnung). Doch das wird nicht einfach. Der rechtsradikale Bolsonaro lag zwar hinter Lula, erzielte aber ein sehr gutes Wahlergebnis (49,1 Prozent). Ausserdem schafften etliche Bolsonaro-nahe Kandidatinnen und Kandidaten den Einzug in die Parlamente, und seine ­Partei wird die stärkste Fraktion in der Ab­geordnetenkammer. Lula wird hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Er ist sich der Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich politisch nun deutlich gen Mitte.

GROSSE PLÄNE

Und wie Bolsonaro gilt Lula vielen in Brasilien als Hassfigur. Nach den Jubeljahren dauerte es nicht lange, bis auf Demonstratio­nen «Lula: ladrão», «Lula: Dieb», gebrüllt und Puppen des Ex-Präsidenten in Häftlingsuniform in die Luft gereckt wurden. Ab 2014 wurde die einst so stolze und populäre Arbeiterpartei zur Projektionsfläche für die Enttäuschung einer ganzen Nation. Mit dem Beginn einer schweren Wirtschaftskrise, vor allem aber nach der Aufdeckung gigantischer Korruptionsskandale galt Lula plötzlich als Kopf eines kriminellen Netzwerks. 2016 wurde Lulas Nachfolgerin und politische Ziehtochter Dilma Rousseff nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt.

Lula versprach, den Umweltschutz zu einer Priorität zu machen und die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes zu stoppen. Doch wie er seine ambitionierten Pläne genau umsetzen will, verrät er nicht. Oft bleibt er schwammig, viel spricht er über die Vergangenheit, fast schon nostalgisch klingt es gelegentlich. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. Die Fronten sind verhärtet, die Gesellschaft ist gespalten. Der Bolsonarismo wird sich nicht einfach in Luft auflösen, selbst wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident ist. Ausserdem ist Lula mit seinen 77 Jahren wahrlich nicht mehr der Jüngste. Trotz allem glauben viele, wenn es einer richten kann – dann Lula.

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