Proteste, Prozesse und Parlamentswahlen – und plötzlich wollen Tessiner Lohndumper das Gesetz befolgen.
Giangiorgio Gargantini. (Foto: Ti-Press / Elia Bianchi)
Was für eine Schlappe! Er ist gerade mal jährig und trotzdem schon Altpapier: der Dumping-Gesamtarbeitsvertrag (GAV) zwischen der Pseudogewerkschaft «Tisin» und dem Unternehmerverband «Ticino Manufacturing» – ein Vertrag, der einzig der Umgehung des Tessiner Mindestlohns von 19 Franken diente. Sieben grenznahe Industriebetriebe profitierten davon. Ihnen half die rechte Lega dei Ticinesi als Tisin-Gründerin (work berichtete: rebrand.ly/tisin). Ende September dann die Überraschung: Ticino Manufacturing verkündete, den fraglichen GAV gekündigt zu haben. Fortan werde man das kantonale Mindestlohngesetz einhalten. Und auch die entstandenen Lohnrückstände würden beglichen.
«Ein wichtiger Sieg für die Gewerkschaften.»
FERTIG 16-FRANKEN-LÖHNE
Grund für den Sinneswandel seien «rechtliche Ungewissheiten» und Reputationsschäden. Da staunte man im Tessin nicht schlecht! Schliesslich hatten die Knauserfirmen ihre Löhne von 16 Franken bisher mit allen Mitteln verteidigt – zuletzt mit einem Rekurs gegen das Arbeitsinspektorat. Dieses hatte im Juni entschieden, der Dumping-GAV verstosse gleich mehrfach gegen das Gesetz.
So erfülle Tisin mit nur 100 angeblichen Mitgliedern die Kriterien eines vertragsfähigen Sozialpartners nicht. Und weil zudem «alle Vorstandsmitglieder auch Unternehmer sind», fehle der angeblichen Gewerkschaft die nötige Unabhängigkeit. Ausserdem hätten die dem GAV unterstellten Arbeitenden «keine Wahlfreiheit» gehabt. Denn während der Betriebsversammlungen, an denen Tisin den pfannenfertigen GAV vorstellte, seien jeweils auch die Chefs anwesend gewesen, so das Arbeitsinspektorat weiter. Das habe die Belegschaften unter Druck gesetzt, zumal sie über die Vertragsannahme nicht geheim, sondern per Handzeichen abstimmen mussten.
RAUSWURF AUS LEGA-SITZ
Tatsächlich wurde in Mendrisio eine Arbeiterin entlassen, nachdem sie den Dumping-GAV zurückgewiesen und den gesetzlichen Mindestlohn eingefordert hatte. Die Unia und die christliche Gewerkschaft OCST mobilisierten zu Protesten und zogen vor Gericht. Und der TV-Sender RSI rollte den Skandal in einer brisanten Doku auf (rebrand.ly/rsidoku). Ticino Manufacturing bekam immer kältere Füsse – und hat nun endgültig kapituliert. «Eine positive Entscheidung für den gesamten Arbeitsmarkt und ein wichtiger Sieg für die Gewerkschaften», sagt dazu Giangiorgio Gargantini, Regiosekretär der Unia. Hingegen nach wie vor keine Erklärung geliefert hat Nando Ceruso (75), Chef der Pseudogewerkschaft. Ihm dürfte schlicht die Lust vergangen sein. Denn vom Rückzug seiner Unternehmerfreunde hatte er offenbar aus den Medien erfahren. Deutlicher geht es kaum: Die Mindestlohntrickser haben sich bös verzockt.
Bereits beerdigt ist Tisin. Schon im Mai waren die Gründungsmitglieder aus der Lega von allen Funktionen zurückgetreten – kommentarlos. Schliesslich stehen im Frühling Wahlen an. Und die angebliche Volkspartei wird realisiert haben, dass Hilfsdienste für Lohndumper schlecht ankommen. Ceruso musste jedenfalls sogar sein Büro räumen – es befand sich im Luganeser Lega-Hauptsitz. Doch der ehemalige OCST-Funktionär will weiterwursteln und hat seinem Verein einen Neuanstrich verpasst: «Sindacato Libero della Svizzera italiana» heisst er jetzt. Auch die «Freie Gewerkschaft» setzt laut Eigenwerbung nicht auf «starre gesetzgeberische Zäune», sondern auf «freie Verhandlungen», also schmutzige Deals. Man darf gespannt sein.