Inflation und Benzin-Mangel lösen landesweite Protestwelle aus

An Frankreichs Tankstellen geht’s zu wie im Wilden Westen

Oliver Fahrni

In Frankreich ballen sich Teuerung und neo­liberale Sparpolitik zu einem explo­siven Gemisch. Präsident Emmanuel Macron setzt auf ­Konfrontation.

«WANTED», GESUCHT: Patrick Pouyanné, der Chef des Energiekonzerns Total. Er verweigerte den Arbeitenden den Teuerungsausgleich – und schenkte dem Aktionariat gleichzeitig milliardenschwere Sonderdividenden. (Foto: Getty)

Polizisten schieben ihren Streifenwagen zu Fuss zur Tankstelle, vorbei an einer kilometerlangen Warteschlange. Panische füllen Benzin in einen Abfallsack. Kunden prügeln sich um die letzten Liter, ein Automobilist erleidet sechs Messerstiche. Bizarre Szenen Mitte Oktober an Frankreichs Tankstellen.

Diesen Schlamassel angerichtet hat Patrick Pouyanné, der CEO des Energiekonzerns Total (205 Mil­­liarden Dollar Umsatz, 100 000 Beschäftigte). Total gehört zu den gros­­sen Kriegs- und Krisengewinnlern. Allein bis Juni schrieb der Multi 10,5 Milliarden Dollar Profit, schüttete viele Milliarden an die Aktionärinnen und Aktionäre aus. Verweigerte aber den Arbeitenden in den Total-Raffinerien den Teuerungsausgleich. Dabei galoppiert die Inflation, Lebensmittel sind um 9,9 Prozent teurer geworden, die Real­löhne sinken. Bereits im Winter 2021 konnten sich 12 Millionen Französinnen und Franzosen die Heizung ihrer Wohnung nicht mehr leisten. Und das Schlimmste steht bevor.

Seit April häufen sich die Streiks gegen die Inflation.

PURE PROVOKATION

10 Prozent Teuerungsausgleich forderten die Gewerkschaften von Total. Ein Klacks. Doch CEO Pouyanné wollte nicht einmal verhandeln. Also beschloss die Belegschaft der Raffinerien, ihn per Streik an den Tisch zu zwingen. Der Konzern antwortete mit einer Provokation: Am zweiten Streiktag schenkte er den Aktionärinnen und Aktionären eine Sonderdividende über 2,6 Milliarden Dollar.

Alles richtig so, fanden Präsident Emmanuel Macron und seine Premierministerin Élisabeth Borne, selbst als schon 30 Prozent der Tank­stellen keinen Treibstoff mehr hatten. Er werde sich nicht in ­«einen privaten Streit zwischen den Gewerkschaften und einer Firma» einmischen, sagte Macron. Privater Streit? Inflation und neo­liberale Abbaupolitik ballen sich längst zu einem hochexplosiven Gemisch. Seit April häufen sich die Inflations­streiks in fast allen Branchen. Die Arbeitenden im öffentlichen Verkehr, in Spitälern, in den Schulen und der Atomindustrie befinden sich im Dauerarbeitskampf. Ende September starteten die Gewerkschaften einen ersten Generalstreik-Versuch, vorerst mit mässigem Erfolg.

Doch die Revolte über Teuerung, Arbeitslosengeld und Rente, gegen den Sparhaushalt und die Not im Service public kocht stetig hoch. Am 16. Oktober versammelte die links-ökologische Allianz Nupes mit der Klimabewegung und 200 Organisationen einige Zehntausende in Paris zu einem Marsch für lebenswerte Einkommen und eine starke Klimapolitik. Nupes-Frau Clémentine Autain nannte es «den Beginn einer neuen Volksfront». Nur zwei Tage darauf hielt ein breites Bündnis von Gewerkschaften einen nationalen Streiktag ab. Diesmal kamen über 150 000 Menschen. Manche trugen gelbe Westen. Die Gelbwesten-Bewe­gung hatte sich im November 2018 an den Spritpreisen entzündet, zumindest vordergründig.

ZUR ARBEIT GEZWUNGEN

Präsident Macrons Regierung wähl­­te auch diesmal die Konfrontation. Zwar räumte Total eine schwache Lohnerhöhung ein. Die Gewerkschaft CFDT, die immer mehr zum Hausverband Macrons wird, unterschrieb. Der andere grosse Dachverband aber, die CGT, führt den Streik weiter. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire nannte den Streik «illegitim». Premierministerin Borne liess die Raffinerie-Büezer requirieren, also zur Arbeit zwingen. Ein klarer Verstoss gegen das Streikrecht. Was wiederum die eher brave Gewerkschaft FO an die Seite der CGT trieb und den Landesstreik vom 18. Oktober befeuerte, um das «Grundrecht auf Streik zu verteidigen».

Bei Redaktionsschluss (am 19. Oktober) ist noch nicht klar, wie sich die neue soziale Bewegung entfalten wird. Auf Macron kann sie zählen: Der Präsident verweigert jede Krisengewinn-Steuer («es gibt keine Superprofite»), will länger arbeiten lassen und zwingt einen brutalen Sparhaushalt ohne Abstimmung durchs Parlament. Dies dürf­­te das Personal des Service public mobilisieren. Es ist gewerkschaftlich weit besser organisiert als die Arbeitenden im privaten Sektor.

Was ist, fragen nun manche Macronisten bang, wenn Gewerkschaften, Linke, Klimabewegung und Gelbwesten zusammenfinden?

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.