Stimmrecht für Migrantinnen und Migranten in der Schweiz:

«Wir wollen endlich mitentscheiden!»

Darija Knežević

Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung hat politisch nichts zu sagen. Bloss weil ihnen der rote Pass fehlt. «Schluss damit!» fordert die Unia-Migrationskonferenz.

«Im Verein darf ich mitbestimmen, in der Kirche darf ich mitbestimmen, in der Gewerkschaft darf ich mitbestimmen – aber in der Politik nicht?» Bauarbeiter Nikollë Desku fühlt sich ausgeschlossen und bevormundet. Und dass nur, weil er keinen Schweizer Pass hat. Dabei lebt Desku seit vierzig Jahren in der Schweiz, engagiert sich in Vereinen und der Kirche seines Wohnorts. Doch politisch wird sein Leben fremdbestimmt. Denn der 58jährige darf mit seinem Ausländerausweis C weder wählen noch abstimmen.

So geht es über zwei Millionen Menschen in der Schweiz. Menschen, welche die Schweiz sozial, gesellschaftlich und wirtschaftlich mitgestalten. Unter der Maxime «Ohne uns keine volle Demokratie!» setzt sich die Unia für die Mitbestimmung von Migrantinnen und Migranten ein. Dafür spannen vier Interessengruppen – Migration, Frauen, Jugend und Rentnerinnen und Rentner – zusammen. Das bekräftigten sie an der Unia-Migrationskonferenz vom 24. September in Bern. Auch SP-Ständerat Paul Rechsteiner (70) war an der Konferenz. Zum Anliegen der Unia findet er klare Worte: «Mehr als ein Drittel aller Arbeitsstunden wird durch Menschen erledigt, die keinen Schweizer Pass haben.» Dass Migrantinnen und Migranten nicht mitbestimmen dürfen, sei ein demokratisches und menschenrechtliches Problem.

Der Weg über die Einbürgerung ist längst nicht für alle gangbar.

SCHLECHTE ERFAHRUNGEN MIT BEHÖRDEN

Das Einbürgerungsverfahren ist heute noch für viele Zugewanderte ein holpriger Weg. Die Anforderungen sind hart: Man muss zum Beispiel seit zehn Jahren in der Schweiz wohnhaft sein, über eine Niederlassungsbewilligung C verfügen und hohe Gebühren bezahlen. Und wer häufig den Wohnort wechseln musste, betrieben wird oder auf Sozialhilfe angewiesen ist, hat meist keine Chance. Komplex wird das Verfahren zusätzlich noch durch die unterschiedlichen Anforderungen von Bund, Kantonen und Gemeinden.

Auch Bauarbeiter Desku würde sich gern einbürgern lassen. Doch mit den Behörden hat der gebürtige Kosovare sehr schlechte Erfah­rungen gemacht. In seiner Zeit als Stahl- und Metallbauer erlitt Desku einen schweren Arbeitsunfall. Er hatte Anrecht auf eine Invalidenrente. Doch bis er diese auch bekam, habe es eine massive Papierschlacht gebraucht. Er fühlte sich schikaniert und in die Ecke gedrängt. Trotzdem fühle er sich zu Hause in der Schweiz. Hierher sei er schliesslich nicht nur zum Arbeiten gekommen, sondern auch zum Leben. Und gerade deshalb ist Desku enttäuscht: «Nur weil mir der rote Pass fehlt, werde ich politisch ausgeschlossen? Das ist doch verrückt!»

MITGESTALTEN, ABER MIT GRENZEN

Erst in den Kantonen Neuenburg und Jura dürfen Migrantinnen und Migranten ohne Schweizer Pass mitbestimmen. Doch auch hier sind die Auflagen streng: In Neuenburg muss man mindestens zehn Jahre im Kanton wohnhaft sein und eine Niederlassungsbewilligung C haben. Im Kanton Jura dagegen muss man seit zehn Jahren in der Schweiz und seit mindestens einem Jahr im Kanton wohnen. Erst letzten Herbst wur­­de auch im Kanton Solothurn über das Stimm­recht von Migrantinnen und Migranten abgestimmt. Über 70 Prozent lehnten dies ab. Wer keinen Schweizer Pass hat, kann in einigen weni­gen Gemeinden kommunal mitbestimmen: etwa in den Gemeinden Scuol GR oder Trogen AR.

Auch die Berner Juristin Helin Genis (27) kämpft für das Stimmrecht von Migrantinnen und Migranten. Bei ihrer Tätigkeit in einer Kanzlei beschäftigt sich Genis regelmässig mit dem Migrations- oder Familienrecht. «Viele Migrantinnen und Migranten kennen ihre Rechte nicht», weiss Genis aus ihrem Arbeitsalltag. «Wir kämpfen hier alle für das Gleiche: Mit­bestim­mung! Was bei Frauen in der Schweiz so lange gedauert hat, darf sich bei Migrantinnen und Migranten nicht wiederholen», sagt die Juristin.

Genis ist für die SP in der Lokalpolitik ­tätig. Sie fände es demokratischer und bereichernd, wenn die Stimmen der ganzen Wohnbevölkerung gehört würden: «In meinem politischen Amt arbeite ich mit vielen Migrantinnen und Migranten, die Politik aktiv mitgestalten, aber schnell vor der Grenze der Mitbestimmung stehen.» Genis gibt ein Beispiel: Nachkommen von Migrantinnen und Migranten stellen sich zur Wahl, und die eigenen Eltern können ihre Kinder nicht mit ihrer Stimme unterstützen. Weil dazu die «richtigen» Papiere fehlen.

AKTION FÜR MEHR DEMOKRATIE

Nivalda Still (52) setzt sich mit Herzblut für Mi­grantinnen und Migranten ein. Die Unia-Mit­arbeiterin fordert ganz konkret: «Wer in der Schweiz geboren ist, soll ein Recht auf den Schweizer Pass haben.» Dies hätte sie sich für ­ihren 14jährigen Sohn gewünscht. Er ist in der Schweiz geboren, erlebt aber regelmässig Ausgrenzungen. «Der Umgang mit Migrantinnen und Migranten ist heute undemokratisch und unfair», sagt Still. Der Stempel «Ausländerin» stört die gebürtige Portugiesin. «Wer in die Schweiz einwandert, muss sehr viel machen, um sich anzupassen. Aber was macht die Schweiz, um sich an uns anzupassen?» fragt Still.

Die 2020 gegründete Aktion Vierviertel möchte genau diese Anpassungen vorantreiben. Der Verein engagiert sich für die Mitbestimmung von Migrantinnen und Migranten (aktionvierviertel.ch). Konkret fordert er eine ­aktive Förderung der Einbürgerung. Wichtig seien besonders fairere Verfahren ohne un­nötige Hürden. Und Vierviertel sieht’s wie Unia-Frau Still: Wer hier geboren worden ist, soll das Bürgerrecht automatisch erhalten.

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