Nach dem AHV-Nein ist vor dem feministischen Streik 2023

«Wir sind putzhässig!»

Christian Egg

Gleichberechtigung? Nein: ungerecht! Nach dem knappen Ja zur AHV-Abbauvorlage gehen Frauen auf die Strasse. Und blicken entschlossen nach vorn.

Zoe Egger schüttelt den Kopf. Wie konnten Leute nur dazu Ja sagen, dass Frauen jetzt ein Jahr länger arbeiten müssen? Der jungen Mutter will das nicht in den Kopf. «Das ist ungerecht. Nicht Gleichberechtigung», sagt sie mit Nachdruck.

Zusammen mit mehreren Hundert Frauen und einigen Männern ist sie einem kurzfristigen Aufruf der SP-Frauen gefolgt, am Tag nach der knappen Annahme von AHV 21. Am Rand der Demo stellt Egger klar: «Ich wäre sofort bereit, gleich lang zu arbeiten wie jeder Mann, wenn ich auch den gleichen Lohn bekäme wie ein Mann.» Und wenn sie nicht bei der Stellensuche benachteiligt wäre, nur weil sie eine Frau sei. Tatsache sei aber: «Wenn eine Firma wählen kann, nimmt sie einen Mann mit gleicher Qualifikation. Weil der keine Kinder bekommen kann.»

Dieser Entscheid ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

«DAS IST ZU VIEL!»

Wut und Enttäuschung über die anhaltende, verfassungswidrige Diskriminierung in der Arbeitswelt und bei den Renten: So geht es vielen Frauen an diesem grauen Montag auf dem Berner Bahnhofplatz. Deutlich spürbar ist aber auch Kampfeswille. «C’est trop», kommentiert Stephanie Wahli das Abstimmungsresultat, das ist zu viel. «Für mich ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.» Diese Rentenreform auf dem Buckel der Frauen ignoriere die Realität, dass Frauen im Schnitt noch immer 20 Prozent weniger verdienten als Männer und in schlecht bezahlten Berufen übervertreten seien. Sie ist extra aus Pruntrut im Jura angereist, um klarzumachen: Jetzt reicht’s.

Ihre Kollegin Magali Clenin aus Biel sagt, sie sei heute auch stellvertretend nach Bern gekommen «für die, die nicht abstimmen können». Weil sie keinen Pass haben, keine Aufenthaltsbewilligung oder zu grosse materielle Sorgen, um sich um Politik zu kümmern. Auch Kerstin Huggenberger, mit Baby im Trageteil, muss nicht lange überlegen, weshalb sie heute hier steht: «Für meine Mama, die jetzt ein halbes Jahr länger arbeiten muss, und meine Schwiegermama, bei der ist es sogar ein ganzes Jahr.» Die beiden seien gerade am Arbeiten, «in einem Pflege- und Betreuungsberuf, wo sie nicht wegkönnen zum Protestieren, obwohl sie sehr wütend sind.»

AUF ZUM STREIK: Einen Tag nach der AHV-Abstimmung ist für die Demonstrierenden auf dem Berner Bahnhofplatz klar: Der nächste 14. Juni wird wieder mächtig werden. (Foto: Adrian Moser)

DA GIBT ES NUR EINES

Wut und Kampfeswille drückt auch Tamara Funiciello aus, Co-Präsidentin der SP-Frauen: Die Demo sei eine «Kampfansage» an jene, die über die Köpfe der arbeitenden Frauen hinweg entschieden hätten (siehe Seite 5). Für Unia-Frau und SP-Frauen-Co-Präsidentin Martine Docourt ist klar: «Das ist ein Rückschritt auf dem Weg der Gleichstellung. Jetzt muss es endlich Lohngleichheit, Gleichstellung in allen Bereichen und mehr und bezahlbare Kita-Plätze geben. Dafür braucht es auch den Druck der Strasse und in den Betrieben.» Zum Beispiel am 14. Juni 2023: In violetter Farbe steht dieses Datum gleich auf mehreren Schildern, die Frauen in die Höhe halten. Dann findet der nächste grosse feministische Streik statt. Schon vorher stehen in der Rentenfrage grosse Weichenstellungen an. Zuerst in der Reform des Pensionskassengesetzes, über die derzeit das Parlament brütet (siehe AHV 21 am 25. September). Bürgerliche Politikerinnen hatten vor der AHV-Abstimmung versprochen, dort die krasse Benachteiligung der Frauen (im Schnitt 63 Prozent tiefere Renten als Männer) zu beenden.

RAUF MIT DEN RENTEN!

Doch auch in der AHV ist, Rentenalter hin oder her, das wahre Problem ungelöst: Die Renten sind zu tief. Im Mittel liegen sie bei knapp 1800 Franken pro Monat. Davon kann niemand leben. Eine Initiative der Gewerkschaften fordert deshalb eine 13. AHV-Rente. Das wäre eine Rentenerhöhung von 8,33 Prozent. Die 130’000 Unterschriften dafür wurden in Rekordzeit gesammelt (work berichtete: rebrand.ly/ahv-x13). Trotzdem findet der Bundesrat: Die Forderung nach höheren AHV-Renten seien zwar «nachvollziehbar», er sehe aber «finanziell keinen Spielraum» dafür. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament dürfte bald ins gleiche Horn stossen.

Dabei ist in der Schweiz genug Geld vorhanden. Tausend Milliarden beträgt das Vermögen der Nationalbank. Das ist Volksvermögen. Einen Teil davon in die AHV fliessen zu lassen wäre die effi­zienteste und sinnvollste Art, es der Bevölkerung zurückzugeben. Genau das will eine weitere Initia­tive der Gewerkschaften, für die noch Unterschriften gesammelt werden (rebrand.ly/snb-ahv). Ob die AHV genügend Geld bekommt, ist ein politischer Entscheid. An der Protestdemo in Bern sagt das auch Tabea Andres: «Mich ärgert es, wie Bürgerliche immer wieder die Angst schüren, die AHV gehe bald bankrott. Und das zum Beispiel als Argument brauchen, weshalb es nicht möglich sei, die Care-Arbeit angemessen zu berücksichtigen.» Care-Arbeit, die zur grossen Mehrheit Frauen leisten – unbezahlt. «Stattdessen lassen sie jetzt uns Frauen länger arbeiten. Das ist doch absurd!»

Ihre Mutter Verena Steffen bringt ihre Empörung auf den Punkt: «Ständig heisst es, für die AHV sei zu wenig Geld da. Aber die Kampfflieger, die kaufen wir jetzt!»

Rekord-Petition: 100’000 Unterschriften in nur einem Tag

Bessere Einkommen für Frauem im Alter und im Erwerbsleben. Für dieses Ziel was das knappe Ja zum AHV-Abbau ein Rückschlag. Noch am Abend des Abstimmungssonntags veröffentlichte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) die «Erklärung vom 25. September». Sie hält fest: Unter dem Vorwand der Gleichberechtigung bei den Frauen zu sparen ist inakzeptabel. Genauso wie der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern, der grösser wird statt kleiner.

JETZT UNTERSCHREIBEN! Unter dem Titel «Wir sind wütend. Wir kämpfen weiter!» können Frauen und Männer die Forderung unterstützen. Und der Rücklauf ist gewaltig: Bereits am Tag nach der Abstimmung haben über 100’000 die Erklärung unterzeichnet. Wer noch nicht unterschrieben hat, kann das weiterhin tun: erklaerung.25-september.ch.


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