Dockers legen grössten Hafen von Grossbritannien lahm

Streikwellen-Reiter von Felixstowe

Peter Stäuber, London

Erstmals seit über 30 Jahren streiken rund 1500 Hafenarbeiterinnen und -arbeiter in der britischen Küstenstadt Felixstowe. Und sie sind nicht die einzigen.

GUTE STIMMUNG: Von miesem Wetter und bockigen Chefs lassen sich die Arbeiter die Streik-Laune nicht verderben. (Foto: Keystone)

Am grössten Containerhafen Grossbritan­niens herrscht totale Stille. Die gigantischen Kräne bewegen sich nicht, Gabelstapler stehen parkiert, niemand ist zu sehen. Schon seit fünf Tagen geht das so: Zum ersten Mal seit über dreissig Jahren haben die knapp 2000 Dockarbeiterinnen und -arbeiter von Felixstowe, an der englischen Ostküste, die Arbeit niedergelegt. Und mit teils spektakulären Aktionen begleitet: Wie der Docker, der auf einem Elektro-Surfbrett, die Fahne der Gewerkschaft Unite hoch erhoben, in den verwaisten Gewässern vor dem Hafen rumkurvt.

Auf einer Wiese an einer schmucklosen Kreuzung gleich beim Eingang zum Hafen sitzen einige Männer auf Campingstühlen, auch sie mit Unite-Fahnen. Der Streikposten ist kleiner als in den Tagen zuvor – über Nacht hat es heftig geregnet, zum ersten Mal seit Monaten, und der Wetterdienst hat eine Sturmwarnung ausgegeben. Umso bereitwilliger berichten die Gewerkschafter von ihrer Arbeit, und war- um sie mindestens acht Tage lang streiken.

Da ist George Taylor *, 61, graue Haare, wettergegerbtes Gesicht. Er sagt: «Der Hafenbetreiber, also der Port of Felixstowe, hat uns eine Lohnerhöhung von 7 Prozent in Aussicht gestellt. Das ist überhaupt nicht genug!» Die Inflation in Grossbritannien beträgt schon jetzt über 10 Prozent, bald könnte sie auf 13 Prozent steigen. Die Streikenden – ­insgesamt haben rund vier Fünftel aller Hafenarbeiter in Felixstowe die Arbeit niedergelegt – fordern, dass die Lohnerhöhung mindestens mit dieser allgemeinen Teuerung Schritt halte. Taylor arbeitet seit 34 Jahren am Hafen von Felixstowe, er ist Gabelstaplerfahrer. Hart ist der Schichtbetrieb, erzählt er, oft arbeite er 60 Stunden die Woche. Auch sei die Arbeit nicht ungefährlich: Letztes Jahr habe ein ferngesteuerter Kran aus Versehen eine «Schachtel» – so nennt er die tonnenschweren Schiffscontainer – auf die Kabine eines Lastwagens niedergelassen, der Fahrer wäre um ein Haar zerquetscht worden.

WICHTIGER KNOTENPUNKT

Der Streik in Felixstowe hat landesweite Folgen. Fast die Hälfte aller Waren, die aus dem Ausland nach Grossbritannien geschafft werden, kommen über diesen Hafen ins Land – Kleider, elektronische Güter, Autoteile, Lebensmittel. Der Port of Felixstowe ist Teil des multinationalen Konzerns Hutchison Port Holdings, der in den British Virgin Islands registriert ist – eine Steueroase in der Karibik. Der Hafenbetreiber schreibt satte Gewinne: 2020 etwa betrug der Profit 61 Millionen Pfund. Laut einer Schätzung wird der Streik dafür sorgen, dass Handelsgüter im Wert von 800 Millionen Pfund festsitzen. Trotzdem halten es die Streikenden derzeit für wenig wahrscheinlich, dass der Hafenbetreiber ihren Forderungen für eine Lohnerhöhung bald stattgeben wird. Die Unternehmensführung gebe sich uneinsichtig, sagen sie. Das dämpft ihren Enthusiasmus aber kaum. Die Gewerkschafter wollen so lange streiken, bis der Port of Felixstowe einlenkt: «Aufzugeben ist überhaupt keine Option. Wir werden gewinnen.»

Eine solche Entschlossenheit zeigen derzeit viele Streikende in Grossbritannien. Die Arbeiterbewegung ist in Aufruhr, seit Wochen ist eine riesige Streikwelle im Gang: Pöstler, Anwältinnen, Journalisten, Call-Center-Mitarbeitende, Zug- und Busfahrerinnen, die Müllabfuhr – sie alle sind in den Ausstand getreten, in den kommenden Monaten könnten Pflegende und Lehrer hinzukommen.

Die Streiks sind eine Antwort auf die tiefe soziale Krise.

VERHEERENDE TEUERUNG

Besonders viel Aufsehen erregten die rund 40 000 Bahnmitarbeitenden: Seit Juni haben sie an mehreren Tagen das gesamte Schienennetz lahmgelegt – es ist der grösste Bahnstreik seit über drei Jahrzehnten. Angeführt wird er vom redegewandten Vorsitzenden der Gewerkschaft RMT, Mick Lynch, der für viele Linke ein Idol geworden ist. «Wir, die Arbeiter, schaffen allen Reichtum in dieser Gesellschaft – allen!» sagte Lynch an einer Kundgebung Ende Juni. «Es ist unsere Arbeitskraft, die die Dienstleistungen bereitstellt, die Güter herstellt und unter die Leute bringt. Alles, was wir wollen, ist einen fairen Anteil an diesem Reichtum.»

Die Streiks sind vor allem eine Antwort auf die tiefe soziale Krise, die sich anbahnt. Wie überall in Europa steigt die Inflation, aber in Grossbritannien ist die Teuerung besonders akut. Besonders Energie wird zunehmend unerschwinglich für viele. Vergangene Woche haben die Britinnen und Briten erfahren, dass ihre Strom- und Gasrechnung ab Oktober schlagartig um 80 Prozent teurer wird. Viele werden es sich nicht leisten können, Armutskampagnen warnen vor katastrophalen Folgen.

GEWERKSCHAFTSFEINDIN

Die Arbeitskämpfe und das selbstbewusste Auftreten der Arbeitnehmenden könnten einen Wendepunkt markieren. In den 1980er Jahren, als die neoliberale Hardlinerin Margaret Thatcher Premierministerin war, steckten die Lohnabhängigen eine Reihe von schweren Niederlagen ein. Am schwersten der verlorene Streik der Bergarbeiter 1984–85. Von diesen Rückschlägen haben sich die Gewerkschaften noch kaum erholt. Heute hat Grossbritannien etwa halb so viele Gewerkschaftsmitglieder wie vor vierzig Jahren. Auch sind die Streikgesetze in den vergangenen Jahrzehnten laufend verschärft worden, in keinem anderen westeuropäischen Land sind sie so restriktiv wie hier. Und die britische Regierung will noch einen drauflegen. Liz Truss, die wahrscheinlich Anfang. September als neue Premierministerin antreten wird, hat angesichts der Streikwelle eine weitere Verschärfung in Aussicht gestellt: Bei Streiks in wichtigen Sektoren wie dem Transportwesen müsste demnach ein Minimalbetrieb beibehalten werden – das würde die Effektivität von Streiks massiv untergraben.

Aber die Gewerkschaften haben überhaupt nicht vor, klein beizugeben. Am Hafen von Felixstowe, wo der Streik am Montag nach acht Tagen vorerst ohne Einigung zu Ende ­gegangen ist, machen sich die streikenden Angestellten auf eine lange Periode der Arbeitskämpfe in allen Sektoren der Wirtschaft gefasst. Gabelstapler Taylor sagt: «Es passiert überall! Der Widerstand wächst, und es ist entscheidend, dass wir gewinnen.»

* Name geändert

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.