Wegen Teuerung und Milliardengewinnen für Konzerne:

Streiks und Proteste in ganz Europa

Oliver Fahrni

Überall brodelt der Aufstand gegen die steigenden Energiepreise. Doch dahinter steckt mehr: Es ist die erste Stufe der voranschreitenden grossen ökologischen Krise.

STARKER AUFTRITT: In Grossbritannien zwangen Proteste die neue, neoliberale Regierung schon dazu, ein 150 Milliarden Pfund schweres Hilfspaket zu verabschieden. (Foto: Getty)

Nicht nur im solothurnischen Gerlafingen, wo das Stahlwerk die Produktion runterfahren will und Kurzarbeitsentschädigung beantragt hat, sorgen die explodierenden Energiepreise für einen heissen Herbst. In Grossbritannien zwangen schon an ihrem zweiten Amtstag Streiks und Proteste die neue, neoliberale Premierministerin Liz Truss in die Knie: Gegen ihr eigenes Dogma kündigte sie ein staatliches 150-Milliarden-Paket an, um die Folgen der explodierenden Energiepreise zu lindern.

In Frankreich streiken Dutzende von Belegschaften für den Teuerungsausgleich, ein Generalstreik und ein nationaler Marsch für tiefere Lebenskosten stehen kurz bevor. Das könnte sich zum Aufstand auswachsen. Deutschlands Koalitionsregierung schaut derweil bang auf die Teuerungsproteste und hofft, daraus werde keine Gelbwesten-Bewegung wie 2018 in Frankreich. In Italien drohen 140 000 Unternehmen wegen der Energiepreise mit Schliessung.

Die Preistreiberei lief bereits im Sommer 2021 heiss.

SÜNDENBOCK

Zum Glück gibt es Wladimir Putin. Der dreht am Gashahn. Seinem Aggressionskrieg gegen die Ukraine kann man alles zuschreiben, auch die extremen Preissteigerungen. Das ist praktisch, aber kaschiert die Rea­lität: Die Preistreiberei lief bereits im Sommer 2021 heiss, acht Monate vor Kriegsbeginn. Damals schwamm Europa in Öl und Gas. Doch die Energiekonzerne verknappten die Lieferungen künstlich, um im Aufschwung nach der Covid-Epidemie kräftig abzuzocken. Ganze Tankerflotten dümpelten randvoll wartend auf den Weltmeeren. 2021 machten Aramco, Exxon, Shell, Total, BP & Co. denn auch historische Rekordumsätze. Und verdoppelten die Gewinne in den ersten sechs Monaten 2022 nochmals, Ende Jahr dürften sie die Billionengrenze erreichen. Nach Schätzungen der Ökonomen wird der Krieg den Konzernen jetzt zusätzlich 1600 Milliarden Dollar in die Kassen spülen, während sich Europa darauf vorbereitet, im Winter zu frieren und Millionen Arbeitsplätze zu verlieren.

Da zeigt sich nicht nur der Irrsinn des Kapitalismus. Die Preise stehen auch für den Bankrott einer deregulierten europäischen Energieversorgung, die noch immer vorwiegend auf fossile Brennstoffe wie Öl, Uran oder Gas baut.

Europas Strommarkt war bis vor kurzem an die französische Atomwirtschaft angelehnt. Sie versorgte den halben Kontinent, auch die Schweiz, mit billigem Atomstrom. Dieser war nur deshalb so billig, weil viele Kosten nicht voll eingerechnet sind (Atommüll-Endlagerung, Sicherheit, Rückbau usw.). Doch bereits im Winter 2021 kippte das System. Der Dezember war kalt, die subventionierten Elektroheizungen liefen wie verrückt, und Frankreich wurde zum Netto-Stromimporteur. Die Atomstromgrossmacht (87 Prozent des französischen Stroms kommen theoretisch aus AKW) konnte den eigenen Bedarf nicht mehr decken. Um ihre Lieferverträge zu bedienen, musste die öffentliche Stromproduzentin Electricité de France (EDF) teuer Strom zukaufen, machte also trotz rasant gestiegenen Preisen Milliardenverluste.

FOLGE DER KLIMAKRISE

Nur war nicht der wachsende Konsum der wahre Grund für das Stromdesaster: Zahlreiche Atommeiler stehen wegen Wartung oder Reparatur still. Ende August liefen nur gerade 24 der 56 Reaktoren, die Stromproduktion hat sich fast halbiert (von mehr als 400 auf geschätzte 220 Milliarden Kilowattstunden). Im Hitze- und Dürresommer 2022, als halb Europa brannte, enthüllte sich eine andere Wahrheit: In Frankreich mussten die Leistungen der Atomkraftwerke auch deshalb heruntergefahren werden, weil der tiefe Wasserstand der Flüsse und die hohe Wassertemperatur keine Kühlung der AKW mehr zuliessen. Norwegen, das Frankreichs Rolle als Europas führender Stromexporteur übernommen hatte, musste seine Stromlieferungen reduzieren und drohte sogar, sie ganz einzustellen. In Norwegen war es kein Kühlproblem, das Land erzeugt den Strom überwiegend in 1700 Wasserkraftwerken. Doch der Wasserpegel war so stark gesunken, dass die Regierung der Eigenversorgung Vorrang gab. Und so wird es nun wohl Jahr um Jahr sein. Die brisante Lage, die Millionen in den Energienotstand treibt, ist bereits eine Folge der grossen ökologischen Krise.

Bizarr, greifen die meisten Regierungen und die EU nun gerade wieder verstärkt auf dieselben fossilen Brennstoffe zurück, die den Klimawandel erst ver­ursacht haben. Sie hatten nie aufgehört, Öl und Gas mit Milliarden zu subventionieren. Jetzt liebäugelt Deutschland damit, Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen, Frankreich und andere Länder haben dies bereits beschlossen. Das von der EU und Konzernen als Ölersatz forcierte Erd- und Flüssiggas ist ökologisch und ökonomisch eine Sackgasse. Hochriskant ist auch die Laufzeitverlängerung für AKW. Und jubelt die totgeglaubte Atomlobby über Präsident Macrons Atomstromliebe (siehe Artikel unten), täuscht sie die Bür­gerinnen und Bürger: Die neuen Reaktoren kommen frühestens im Jahr 2035 – zu spät, um gegen den Klimawandel etwas auszurichten. Und selbst im Vollausbau, das zeigen alle Szenarien, würden sie nur 15 Prozent des Energiebedarfs decken.

ENERGIE MOBILISIERT

Akut haben Europas Regierungen heute ein brennendes Problem: Wie können sie verhindern, dass aus den Preis-Protestbewegungen ein europaweiter Gelbwesten-Aufstand wird? Wärme, Kochen, Licht, Kommunikation, Transport sind Grundbedürfnisse. Energie ist Gemeingut. Das mobilisiert. Preisdeckel wären vielleicht eine Lösung. Gewerkschaften fordern sie schon lange. Strompreisbremsen sind einfach, wie etwa das österreichische Modell zeigt: Der Grundbedarf eines Haushalts (bis zu 2900 Kilowattstunden) würde subventioniert. Italien, Spanien und Frankreich favorisieren andere Mechanismen, in Deutschland und Grossbritannien ist gerade alles im Fluss. Schwieriger sind limitierte Preise bei Benzin, Öl und Gas, weil da übermächtige Konzerninteressen tangiert werden. Doch die EU mit der Nachfragemacht von 450 Millionen Einwohnenden könnte Höchstpreise festlegen, an die sich auch grosse Konzerne halten müssten.

Finanzieren liessen sich Massnahmen wie Preisdeckel durch die Abschöpfung der Extragewinne. Darüber ist in Brüssel und den Hauptstädten gerade ein heftiger Streit entbrannt. Italien hat eine solche Abgabe bereits beschlossen, andere Regierungen schicken sich an, dem zu folgen. Dagegen machen neoliberale Hardliner und Konzernlobbyisten Front. Wie sagte Macrons Wirtschaftsminister Bruno Le Maire: «Ich weiss nicht, was Extraprofite sind.»

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