Am 2. Oktober wählt Brasilien einen neuen Präsidenten

Mit Lula kommt die Hoffnung zurück

Niklas Franzen, São Paulo

Jair Bolsonaro, der rechtsextreme Präsident, klammert sich an die Macht. Doch Lula, der Arbeiterpartei-Kandidat, liegt in allen Umfragen klar vorne.

WEG MIT BOLSONARO: Viele Brasilianerinnen und Brasilianer haben genug von der Miss- und Vetternwirtschaft des amtierenden Präsidenten. (Foto: Key)

Wenn Adriano Silva Freitas durch die Strassen seines Viertels läuft, sieht er das pure Elend: «Viele Menschen sind am Hungern.» Freitas – 45 Jahre, Basecap, leichter Silberblick – kommt aus dem armen Stadtrand São Paulos. An diesem Tag ist er jedoch im Zentrum der Megametropole unterwegs, um Flyer für die Arbeiterpartei PT zu verteilen. Für ihn ist klar: «Präsident Jair Bolsonaro muss weg.»

ADRIANO SILVA FREITAS: «Bolsonaro muss weg.» (Foto: Niklas Franzen)

Der ultrarechte Bolsonaro will am 2. Oktober wiedergewählt werden, liegt in den Umfragen aber klar hinter Luiz Inácio Lula da Silva. Lula, ein ehemaliger Gewerkschaftsführer, ist der Kandidat der Arbeiterpartei und regierte bereits von 2003 bis 2010. Nach dem Beginn ­einer schweren Wirtschaftskrise, der Aufdeckung gigantischer Korruptionsskandale und fragwürdiger Prozesse fiel die PT ganz tief: Lulas Nachfolgerin wurde ihr Amt entzogen, Lula kam in Haft. Mittlerweile sind alle Urteile gegen ihn annulliert, und Lula plant, an die Spitze des grössten Landes ­Lateinamerikas zurückzukehren.

LICHTGESTALT LULA

Bolsonaro war es 2018 gelungen, viele Wählerinnen und Wähler hinter sich zu bringen, mit seiner Inszenierung als Anti-Establishment-Kandidat und dem geschickten Einsatz der sozialen Medien. In diesem Jahr dürfte ein ähnlicher Erfolg schwierig werden. Bolsonaros grösste Probleme: die schwere Wirtschaftskrise und die wachsende Armut. Die Inflation ist hoch, die Energiepreise steigen, und die Arbeitslosigkeit klettert auf immer neue Rekordwerte. Anfang August zeigte ein Titelfoto der Tageszeitung «O Globo» Menschen, die in einem Müllwagen nach Essensresten suchen. 31 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer hungern bereits. Das sind 15 Prozent der Bevölkerung.

So blicken viele Brasilianerinnen und Brasilianer sehnsüchtig auf die Amtszeiten von Gewerkschafter Lula zurück. Er setz-te ambitionierte Sozialprogramme um. Schwarze konnte erstmals Universitäten ­besuchen, Hausangestellte bekamen Rechte zugesprochen, Millionen entflohen der Armut. So auch PT-Mitglied Adriano Silva Freitas. Er sei ein «Alles-Macher», habe viele Jobs: Elektriker, Spengler, Maler. Für Menschen wie ihn gab es in Brasilien nur wenige Chancen. Doch als Lula regierte, konnte er ein Haus bauen und ein Auto kaufen. Bei vielen Armen gilt der Sozialdemokrat mit Kratzstimme als Lichtgestalt. Doch nicht alle wollen seine Rückkehr.

15 Prozent der Menschen in Brasilien hungern.

BOLSONARO, DER GELDWÄSCHER?

Auf der Avenida Paulista steht ein kleiner Zeitungskiosk. Überall hängen Brasilien-Fahnen und Portraits von Bolsonaro. «Er ist mein Kandidat», sagt Jorge Valdo Santos, 58. Wie so viele Glücksritter kam er aus dem ­armen Nordosten nach São Paulo. Heute betreibt Santos den Kiosk auf der bekanntesten Strasse von São Paulo, die einem Betonwald aus Wolkenkratzern gleicht.

Was er an Bolsonaro mag? «Er denkt an die Familie und ist ehrlich.» Ausserdem gebe es in seiner Regierung keine Korruption. Das stimmt nur bedingt. Dem Präsidenten selbst konnte zwar keine Korruption nachgewiesen werden, aber mehrere Ministe­rinnen und Minister ­sowie die Söhne Bolsonaros sind in Skandale verstrickt. Zwei Journalistinnen des Onlinemediums UOL deckten kürzlich auf, dass die Bolsonaro-Familie 51 ihrer 107 Immobilien mit Bargeld bezahlt haben soll. Gegen den Präsidenten, der sich gerne als Kämpfer gegen Korruption und Vetternwirtschaft inszeniert, steht nun der Vorwurf der Geldwäsche im Raum.

Ein junge Frau kommt in den Kiosk, nimmt zwei Tüten Saft aus dem Kühlschrank, geht zur Kasse. «Die kannst du beim nächsten Mal bezahlen!» sagt Santos. Der Verkäufer kennt viele seiner Kundinnen und Kunden, ist freundlich, scherzt herum. Er ist kein fanatischer Rechtsextremist – und doch ein typischer Bolsonaro-Wähler.

JORGE VALDO SANTOS: «Bolsonaro denkt an die Familie.» (Foto: Niklas Franzen)

ANGST VOR GEWALT

Bolsonaro ist vor allem der Kandidat der weissen Mittel- und Oberschicht. Doch auch viele Arbeiterinnen und Arbeiter unterstützen den Ex-Militär. Im Stadtteil des PT-Aktivisten Freitas hätten 2018 viele aus Angst vor Gewalt für den Rechtsradikalen gestimmt. 2017, im Jahr vor der Wahl, wurden mehr als 60 000 Menschen in Brasilien ermordet. So stiess Bolsonaros Ankündigung, die Waffengesetze zu liberalisieren, auf viele offene Ohren. Gewerkschafter Freitas sagt: «Die Menschen haben nichts zu essen, aber wollen Waffen kaufen. Das ist doch absurd!» Auch der Einfluss der Freikirchen erklärt den fulminanten Aufstieg Bolsonaros, der immer wieder ihre Nähe sucht. Ihre Heilsversprechen kommen gerade bei den Armen gut an.

TRUMP-TRICKS

Bolsonaro versucht, auf die schwachen Umfragewerte bei armen Brasilianerinnen und Brasilianer zu reagieren. Auf Antrag der Regierung beschloss das Parlament unlängst mehr Ausgaben für Sozialhilfe – allerdings auf drei Monate befristet. Es ist zweifelhaft, ob dies Bolsonaro helfen wird, zu dem mit weitem Vorsprung führenden Lula aufzuschliessen. Lula verkündete zuletzt sogar selbstbewusst, in der ersten Runde gewinnen zu wollen – was allerdings recht unwahrscheinlich ist. Kommt kein Kandidat auf über 50 Prozent der Stimmen, gibt es am 30. Oktober eine Stichwahl.

Bolsonaro verbreitet seit Monaten Lügen über das elektronische Wahlsystem und scheint die Ergebnisse im Stile Donald Trumps anzweifeln zu wollen. Doch die demokratischen Institutionen trotzen bisher den autoritären Sehnsüchten des Präsidenten. Auch PT-Aktivist Freitas ist sich sicher: Lula wird Präsident. «Dann kommt die Hoffnung zurück nach Brasilien.»

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