Als Kind italienischer «Gastarbeiter» hat Michele Schiavone noch die kalte Baracken-Schweiz erlebt. Diese Erfahrung prägt sein Handeln bis heute.
KANDIDAT SCHIAVONE: «Gegen den verheerenden neoliberalen Kurs des früheren PD-Chefs und Ministerpräsidenten Matteo Renzi habe ich mich immer gewehrt.» (Foto: ZVG)
work: Herr Schiavone, Sie kandidieren für den Senat, den «Ständerat» Italiens. Wie optimistisch sind Sie?
Ich glaube, die Chancen stehen nicht schlecht. Zwar ist für uns 2,5 Millionen Auslanditalienerinnen und -italiener in Europa nur ein einziger Senatssitz reserviert. Aber ein Unbekannter bin ich ja nicht. Vor bald zehn Jahren wurde ich in den Weltrat der Auslanditalienerinnen und -italiener (CGIE) gewählt – als Vertreter der Schweiz. Und seit 2016 bin ich Generalsekretär dieses «kleinen Parlaments».
Also sind Sie bereits der oberste Auslanditaliener?
Wenn Sie so wollen, ja. Doch darum geht es ja nicht. In Italien droht uns ein Rückfall in dunkle Zeiten. Zwar nicht gerade in den Mussolini-Faschismus, aber falls die Rechten gewinnen, zerstören sie die hart erkämpften sozialen Errungenschaften mit Sicherheit. Schon heute sind über 5 Millionen meiner Landsleute arm. Mit Meloni als Ministerpräsidentin würden es noch viel mehr.
Ist für die aktuelle Misere denn nicht die langjährige Regierungspartei, Ihr Partito Democratico (PD), mitverantwortlich?
Der frühere PD-Chef und Ministerpräsident Matteo Renzi verfolgte in seiner Amtszeit einen verheerenden neoliberalen Kurs. Dagegen habe ich mich immer gewehrt. Ich gehöre dem linken Parteiflügel an. Renzi ist zum Glück nicht mehr Parteimitglied, und seine Nachfolger haben den Kurs korrigiert. Der PD ist immer noch eine linke Kraft, die sich für die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzt.
Welche Erfolge konnten Sie in letzter Zeit persönlich verbuchen?
Während der Corona-Pandemie haben wir vom Auslanditalienerrat einiges erreicht. Etwa Arbeitslosengeld für Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland wegen Corona ihre Stelle verloren haben und nach Italien heimkehrten. Laut Gesetz hätten sie darauf kein Anrecht gehabt. Auch haben wir für Italienerinnen und Italiener im Ausland das Recht auf Corona-Nothilfen durchgesetzt. Und in der Schweiz haben wir eine italienischsprachige psychologische Anlaufstelle aufgebaut. Und kaum war die Pandemie einigermassen vorbei…
… hat Putin die Ukraine überfallen…
… und uns wieder einen Haufen Arbeit beschert. Vor dem Krieg lebten rund 8500 Italienerinnen und Italiener in der Ukraine. Natürlich mussten auch viele von ihnen flüchten. Doch an den Grenzen gab es viele Komplikationen. Ich habe dann tagelang mit allen italienischen Konsulaten Osteuropas telefoniert, damit die Sicherheit und Versorgung der Kriegsvertriebenen gewährleistet wird.
Mit geschlossenen Grenzen und schikanösen Kontrollen kennen Sie sich ja aus.
Ja, so wie viele Italienerinnen und Italiener meiner Generation. Die erste Erfahrung machte ich mit elf Jahren. Meine Eltern arbeiteten damals beide in Kreuzlingen TG in einer Fabrik. Ich lebte bei meinen Grosseltern in Apulien und musste in die Priesterschule. In den Sommerferien bin ich dann durchgebrannt. Ganz alleine bin ich in den Zug gestiegen und bis Chiasso gefahren. Dort liessen mich die Zöllner aber nicht durch, sondern haben mich auf den Posten abgeführt und dann einfach nach Como abgeschoben. Mein Vater ist mich dann mit dem Auto holen gekommen. Lange konnte ich aber nicht bleiben. Damals galt ja noch das Saisonnierstatut. Saisonniers durften ihre Kinder nicht in die Schweiz bringen.
Sie sind dann später trotzdem gekommen.
Ja, als 18jähriger zog ich zum Arbeiten ebenfalls nach Kreuzlingen. Da wurde ich auch in der italienischen kommunistischen Partei aktiv. Wir waren eine der grössten Sektionen der Schweiz! Im ganzen Land hatten wir über 10’000 Mitglieder. Ich machte in St. Gallen die Dolmetscherschule und gab den Genossen in der Freizeit Deutschunterricht. Damals kam ich auch mit den Gewerkschaften in Kontakt., bald auch mit Vasco Pedrina, der später Unia-Co-Präsident wurde.
Apropos Pedrina: Stimmt es, dass Sie mit ihm einmal fast im Knast gelandet wären?
Ja! Das war 2002 zu Zeiten der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI). Der Kampf um die Frühpensionierung mit 60 auf dem Bau gelangte in seine entscheidende Phase. Wir sassen im Zürcher Volkshaus und da hatte Vasco die zündende Idee. Kurze Zeit später haben wir mit 2000 Arbeitern den Baregg-Tunnel besetzt – und so die Frührente durchgesetzt. Vasco und andere wurde dafür zunächst zu bedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Mich hat man letztlich aber nur verhört.
Michele Schiavone (62): Der linke Banker
Seit zwei Jahren ist Schiavone nicht mehr Banker bei der Credit Suisse, sondern geniesst seine Frühpension in Tägerwilen. Im Thurgau wohnt der Doppelbürger mit seiner Frau Angela schon seit jungen Jahren. Schiavone ist Mitglied der SP und des Partito Democratico, den er in der Schweiz gegründet und lange präsidiert hat.